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Clips im Netz: «After Youtube» Das Musikfernsehen stirbt, das Musikvideo überlebt

Viva wird eingestellt, MTV dümpelt vor sich hin. Trotzdem werden Musikvideos milliardenfach geschaut. Ein Buch erforscht, was das Netz mit Musikclips angestellt hat.

​​Majestätisch stehen sie vor der Mona Lisa – und kehren ihr den Rücken zu. Nicht Da Vincis Ölgemälde, sondern Beyoncé und Jay-Z dominieren das Bild. In ihrem neuen Musikvideo zu «Apeshit» drängt sich das Paar in den Pariser Louvre, stellt sich auf die Höhe des gesamten westlichen Kunstkanons und sagt: Platz da, für schwarze Kunst!

Das Musikvideo von Beyoncé und Jay-Z ehrt und kritisiert den Louvre gleichermassen: Es ist eine Hommage an die Kunst und gleichzeitig eine Anklage an deren Exklusivität.

​​Aber eins nach dem anderen. Mal schnell das Louvre mieten, um ein Musikvideo zu drehen? Kein Wunder ging das Video viral. So etwas hat man noch nicht gesehen.

Und so ein vielschichtiges Video muss erst einmal verdaut werden: Welche Kunstwerke sieht man darin? Welche Bedeutung haben sie? Was wollen uns die Carters damit sagen? Das Netz spielte verrückt, ging hinter die Bücher, interpretierte um die Wette.

​​Das gleiche passierte beim Musikvideo von Donald Glover alias Childish Gambino: «This is America» ist gespickt mit etlichen Botschaften, die es zu entschlüsseln gilt. Glover verschmilzt darin die amerikanische Geschichte mit deren Gegenwart. Sein Ziel? Auf Polizeibrutalität, Diskriminierung und Waffengewalt in den USA aufmerksam machen. Seine Kritik? Kommt verpackt in vier Minuten Tanz, Theater, Performance und Rap.

Totgesagt und auferstanden

​​Die beiden Beispiele zeigen, wie populär und lebendig die Kunstform des Musikvideos heute ist. Dabei wurden es noch in den Nullerjahren totgesagt: Damals, als das Musikfernsehen starb – MTV zeigt vermehrt Realityshows, Viva wird Ende 2018 eingestellt –, fing man an, sich auch vom Musikvideo zu verabschieden.

Doch YouTube und andere Videoplattformen retteten das Genre. Sie boten Videoclips eine neue Bühne und verliehen ihnen einen kreativen Schub.

​​Das halten auch Lars Henrik Gass, Christian Höller und Jessica Manstetten fest. In ihrem Buch «After Youtube – Gespräche, Porträts, Texte zum Musikvideo nach dem Internet» erforschen sie die Renaissance des Musikvideos im digitalen Zeitalter.

Buchhinweis

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«After Youtube. Gespräche, Portraits, Texte zum Musikvideo nach dem Internet»: Hrsg. von Lars Henrik Gass, Christian Höller und Jessica Manstetten, 2018, StrzeleckiBooks.

​​Dabei legen die Herausgeber den Fokus auf «Post-Internet-Art» («Post» betont dabei die Allgegenwart digitaler Medien) und deren Rolle in aktuellen Musikvideos. Die auffälligste Beobachtung: Im Internet haben sich KünstlerInnen von den Konventionen und Vorgaben des Musikvideos im TV befreit und ausdifferenziert: Bildende Kunst, Performance, Netzkunst, Grafikdesign, Fiktion, Dokumentation – all das fliesst in die Kunst des Musikvideos mit ein.

24 Stunden glücklich

Ausserdem wird das Format gesprengt: Lange Musikvideos wurden plötzlich nicht nur für Megastars wie Michael Jackson möglich. Lady Gaga und M.I.A. etwa betteten ihre Songs in filmische Kurzgeschichten, Kanye West und Beyoncé drehten gleich halbstündige Filme zu ihren Alben, die Band Flaming Lips legte ihre Musikvideos zu «Embryonic» als fünfteilige Serie an. Und Pharrell Williams stellte sie alle mit einem 24-Stünder zu «Happy» in den Schatten.

​​«Durch das Internet gab es eine Entformatierung des Musikvideos», sagt Lars Henrik Gass. «Musikvideos waren zwar schon immer sehr hybrid – das liegt an der Natur der Popkultur selbst – neu aber ist, dass das Internet den Zugang zu einem visuellen Archiv verschafft hat.»

Interaktion mit dem Zuschauer

​​So konzentriert sich «After YouTube» auch auf eine Künstlergeneration, die digital aufgewachsen ist und für die das Netz ein Teil der künstlerischen Praxis ist. «Mittlerweile gibt es viele interaktive Musikvideos, die nur im Internet funktionieren, die man manipulieren muss, die endlos laufen können, oder die sich mit Hilfe von Algorithmen fortentwickeln», sagt Gass.

Zum Beispiel: Bevor man Arcade Fires Musikvideo zu «We used to wait» sieht, gibt man die Adresse ein, wo man aufgewachsen ist. Das Video führt einen per Google Street View durch die eigene Kindheit.

Cee Lo Green lässt in «Robin Williams» das Google Interface und dessen Algorithmen die Lyrics inszenieren, hier wird der Text nicht nur auditiv, sondern auch visuell ins Spiel gebracht.

Post-Internet-Musikvideoästhtik

Nicht nur das Pop-Publikum ist also im Netz – auch die Post-Internet-Artists schöpfen im Web aus dem Vollen. Und kreieren Musikvideos, deren Merkmale die Interaktivität, die Internetaktivität und nicht selten auch die Selbstreferentialität ist.

Deichkind etwa konzipierten ihr Musikvideo zu «Denken sie gross» als Tutorial, in dem erklärt wird, wie man ein «award winning music video» dreht. Das Video gewann tatsächlich Preise.

Einige Künstler gliedern das Netz als Verbreitungskanal in ihr Musik- und Videokonzept mit ein. Songs von Drake («In My Feelings») und der R&B-Sängerin Ciara («Level Up») etwa führten zu einem viralen Tanzhype: Fans studierten Choreografien ein und übertrafen sich gegenseitig mit ausgefallenen Videos, die sie im Netz teilten. Das Resultat findet man auf Instagram unter den Hashtags #InMyFeelingsChallenge und #LevelUpChallenge.

Jay-Z und Beyonce sitzen auf einem Sofa im Louvre.
Legende: Ihre Kunst? Ein unauslöschliches Erbe. Beyoncé und Jay-Z posieren im «Apeshit»-Clip als wären sie historische Statuen. Youtube / Beyonce

Ziel? Klicks und Streams

Auch die Musikvideos zu «Apeshit» und «This is America» sind bezeichnend für eine Zeit, in der ein Musikvideo dann ein erfolgreiches ist, wenn es zu reden gibt und so konzipiert ist, dass es mehrmals angeschaut werden will. Denn heute zählen Klicks und Streams.

Der Internet-Schwarm entscheidet, welcher Song Erfolg hat und von den Konzertbetreibern gebucht wird. Und konsumiert werden Musikvideos allemal: Unter den zehn Videos, die seit dem Start von Youtube am häufigsten angeklickt wurden, sind neun Musikvideos.

Ein Mann sitzt auf dem Stuhl, ein anderer schiesst ihm in den Kopf.
Legende: In «This Is America» werden Waffengewalt und Diskriminierung in den USA kritisiert: Das Musikvideo wurde über Nacht zum Kulturphänomen. Youtube / Donald Glover

Der politische Charakter der Bildwelten von Childish Gambino, Beyonce und Jay-Z seien aber kein neues Phänomen, meint Gass. «Es gab immer schon Möglichkeiten, politische Inhalte zu platzieren. Das Internet hat aber durch seine Freiheit und dadurch, dass es die Reglementierung des Fernsehens aufgehoben hat, auch stärker politische Inhalte zugelassen.»

Scheitern als Chance

Trotzdem ist für Künstler das Musikvideo nach wie vor eine der besten Möglichkeiten, um von sich reden zu machen. Denn smarte, vielschichtige, interaktive, verschlüsselte, komplexe Musikvideos werden geteilt, diskutiert, bewertet und parodiert.

Auch dann, wenn der Dreh zum Musikvideo kläglich scheitert, wie der Clip zu «Wyclef Jean» von Rapper Young Thug beweist. Der Regisseur wusste sich zu helfen, als der Künstler den Videodreh schwänzte.

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