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Netzwelt «Colorized History»: unsere Foto-Vergangenheit in Farbe

Im Webforum Reddit laden zahlreiche Nutzer historische Aufnahmen hoch. Kriegsdokumente, Porträts von Prominenten, Ikonen der Fotogeschichte. Mit einem frappanten Unterschied zum Original: Sie sind digital koloriert. Darf man das?

Albert Einstein posiert braungebrannt in blauen Shorts am Strand. Ein Porträt der Miss America von 1924 mit violetter Schärpe und braunem Haar. Das irritierende daran? Die Farben. Denn sämtliche Aufnahmen, die uns von Albert Einstein und seinen Zeitgenossen vertraut sind, sind schwarz-weiss. Die Bilder haben sich in sämtlichen Nuancen der Graustufen ins kollektive visuelle Gedächtnis gebrannt.

Hobby-Historiker im Netz

Im Webforum Reddit bieten Nutzer Inhalte an, die von anderen Nutzern bewertet werden können. Die 2005 gegründete Plattform wandelte sich innert weniger Jahre zum gigantischen Open-Source-Projekt mit über 70 Millionen Nutzern monatlich.

In sogenannten Subreddits tummeln sich Nutzer, die ihre speziellen Vorlieben für bestimmte Themen teilen. Solch eine Subreddit ist «Colorized History». Hier finden sich unzählige historische Fotos, welche von Profis und Amateuren in stunden- und tagelanger Feinarbeit digital koloriert wurden, mit der Absicht, den Aufnahmen auf diese Weise neues Leben einzuhauchen.

Darf man das?

Durch die Farbgebung scheint die zeitliche Distanz zum Dargestellten zu schwinden, die Geschichte rückt näher. Aber darf man derartige Eingriffe überhaupt vornehmen? «Nein», meint Reto Camenisch, Fotograf und Studienleiter Redaktionelle Fotografie an der Schweizer Journalistenschule MAZ. «Diese Bilder zeugen von einer Respektlosigkeit gegenüber der Autorenschaft. Fotografie wird hier zur manipulierbaren Masse für jedermann.»

Oft steht nämlich nicht der Name der Urheber auf der Abbildung, sondern der des Bearbeiters. Was bei Camenisch auf heftige Ablehnung stösst: «Die Macher von Colorized History erlauben sich, in das Konzept und die Bildsprache der Autoren einzugreifen. Wenn ich einen Munch nach meinem Gusto nachkolorieren würde, ginge ein Entsetzen durch die Medien- und Historikerwelt.»

In sozialen Medien beliebt

Nicht so bei der Fotografie. Im Gegenteil: Die kolorierten Aufnahmen erfreuen sich in der Welt der sozialen Medien grösster Beliebtheit. In zahllosen Kommentaren entspinnen sich lebhafte Diskussionen über Fragen der Technik und kleinste Details wie die Augenfarbe von Liz Taylor.

Dies mag banal klingen, führt jedoch zum Kern des Problems: Die eingefärbten Bilder auf «Colorized History» sind keine Abbildung der Realität, sondern freie Interpretationen derselben. Für Camenisch höchst problematisch. Das sei reine Hypothese. Die dürfe man zwar anbringen, müsse sie aber als solche deklarieren.

Da kriegt jemand wie Liz Taylor schon mal grüne Augen, obwohl die dank eines seltenen violett für Faszination sorgten.

Ikonen der Fotogeschichte verfremdet

Nebst vielen Abbildungen mit faszinierender Wirkung finden sich auch fragwürdige Beispiele. Die Lippen der «Migrant Mother» von Dorothea Lange etwa scheinen plötzlich lachsfarben geschminkt. Was in einem Dokument über die arme Bevölkerung Amerikas eine doch ziemlich irritierende Wirkung hat. Das Problem würde verringert, wenn solche Bilder als freie künstlerische Interpretationen des Originals angekündigt würden. Doch auf Reddit geschehen diese Prozesse weitgehend unreflektiert.

Die digitale Verfügbarkeit von Bildarchiven kombiniert mit neuen technischen Möglichkeiten birgt ein unvorstellbares kreatives Potential für eine Vielzahl von Menschen. Was für für viele eine Bereicherung darstellt, sieht Camenisch als Gefahr: «Jeder kann rumpfuschen. Früher war das Kolorieren Teil des Handwerks eines Lithografen, mit Eier-Lasurfarben wurde von Hand koloriert. Das verschaffte den Bildern einen künstlerischen Mehrwert, welchen ich hier abspreche.»

Der Zauber liegt in der Abstraktion

Die Intention der Macher, mit der Einfärbung die historische Distanz zur Gegenwart verringern, lässt Camenisch nicht gelten. «In der damaligen Zeit wurden die Menschen und die Geschehnisse mit der Abstraktion der Schwarz-Weiss-Fotografie dokumentiert. Die farbigen Bilder auf Reddit verringern die historische Distanz nicht. Im Gegenteil: Die Macher haben kein Empfinden für ebendiese historische Distanz.»

Mit der Abstraktion der Schwarz-Weiss-Fotografie haben grosse Fotografen Geschichte geschrieben. Darin liegt auch der Zauber von Langes «Migrant Mother» oder «Steamfitter» von Lewis Hine. Indem die Farbe in die falsche Zeit versetzt werde, würden die Sachverhalte verfälscht, meint Camenisch. Wo für die einen der Zauber verloren geht, gelangt er für die anderen erst ins Bild.

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