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Das digitale Ich Individualismus und Spionage im Silicon Valley

Nicht weit von San Francisco schlägt das Herz der digitalen Revolution: das Silicon Valley. Die kalifornische Traumfabrik verspricht uns eine bessere Welt, war aber schon immer ein militärisch-industrielles Zentrum. Während es uns individuelle Freiheit vorgaukelt, überwacht und kontrolliert es uns.

«Wie im Schlaf wandeln wir in einer Architektur der Kontrolle und Überwachung, die sich mit Begriffen wie Teilen und Altruismus tarnt», sagt der Autor und Journalist Andrew Keen. US-Historiker Thomas Frank ergänzt: «Mich fasziniert, wie Millionen Menschen sich der Idee der Freiheit verschrieben haben und wie sich das nun alles pervertiert hat. All die Dinge, von denen wir dachten, dass sie uns befreien, haben uns ausspioniert.»

Das Silicon Valley macht gemeinsame Sache mit der NSA. Edward Snowden zufolge sind Millionen geflossen, damit Firmen wie Facebook, Google oder Microsoft die Infrastruktur für staatliche Überwachung liefern. Das Freiheitsversprechen aus dem Silicon Valley – bloss ein Mythos? «Wir waren hier schon immer ein militärisch-industrielles Zentrum», sagt Fred Turner, Medienwissenschaftler der Uni Stanford. «Dass der Geist der Gegenkultur hier überall präsent ist, ändert nichts daran.»

Die Gegenkultur erwacht

Militärische Logik bestimmt die Geschichte des Silicon Valley von Anfang an. 1957 schicken die Russen den ersten Satelliten ins Weltall. Mit dem Sputnik-Schock beginnt der Kalte Krieg. Die USA befürchten technologisch ins Hintertreffen zu geraten. Kalifornische Universitäten und Computerfirmen werden mit staatlich-militärischen Forschungen beauftragt, Milliarden Dollar fliessen ins Silicon Valley.

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Interview mit Thomas Frank (engl.)
Aus Kultur Extras vom 06.12.2013.
abspielen. Laufzeit 9 Minuten 45 Sekunden.

1964 gehen Studenten in Berkeley und Stanford gegen den militärisch-industriellen Komplex auf die Strasssse: Die amerikanische Gegenkultur erwacht. Ihr Feindbild: die Grossrechner. «Computer waren zunächst Symbole eines kalten und hyperrationalisierten Kartells, das uns auf Nummern reduzierte», sagt Thomas Frank. «Genau dagegen richtete sich die Gegenkultur der 1960er und 1970er Jahre.»

Freiheit durch Individualismus

Die Hippiebewegung macht den Weg für eine neue Vision frei: Freiheit durch Individualismus. LSD statt Protestbanner, Hedonismus statt Politik – damit wollen sie zuerst ihr Bewusstsein und dann die Welt verändern. Zwischen 1966 und 1973 strömen Millionen junger Amerikaner aufs Land, um dort alternative Gemeinschaften zu gründen.

«Diese Kommunen wollten sich dem Zugriff des Staates und der Regierung entziehen», erklärt Fred Turner, Autor von «From Counterculture to Cyberculture». «Nichts sollte an Bürokratie, Hierarchie oder Gesetze erinnern. Es ging um Eigenverantwortung, Intuition sowie das Teilen von Gefühlen und Interessen. Die Gegenkultur versuchte dem Staat zu entkommen, um eine neue Form der sozialen Organisation zu etablieren. Ironischerweise wandten sie sich jedoch gleichzeitig auch dem Geschäftemachen und dem Konsum zu.»

Treibende Kraft dieser Entwicklung war Stewart Brand. 1968 gründet er den «Whole Earth Katalog», eine Art Bibel der Gegenkultur, in dem Hippies Informationen über andere Kommunen und Produkte für ein nachhaltiges Leben finden konnten. Sogar die ersten Rechner waren im Angebot. Wer die richtigen Produkte kauft, verändert die Welt – so die Botschaft.

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Interview mit Fred Turner
Aus Kultur Extras vom 06.12.2013.
abspielen. Laufzeit 9 Minuten 55 Sekunden.

Geldmachen mit Metadaten

«Der Katalog war wie das World Wide Web», sagt Fred Turner. «Er pries Waren an, formte aber gleichzeitig eine neue Gemeinschaft – und das in einer Zeit, als keiner wusste, wo die ganzen Hippies waren. Gemeinschaft und Business gingen Hand in Hand. Das Geldmachen mit Metadaten wie Google und Facebook es heute betreiben, ist ein Erbe der Gegenkultur.»

Geschäftssinn, Netzwerke, Individualismus: In den 1980er Jahren prägt die Gegenkultur die aufstrebende Computerindustrie. 1984 bringt Stewart Brand Hippies und Hacker auf einer grossen Konferenz zusammen. 1985 gründet er «The Well», die elektronische Version des «Whole Earth Katalog». Das erste soziale Netzwerk der Welt bringt Visionäre der Gegenkultur und Start-Up-Unternehmer zusammen – auch Apple-Gründer Steve Jobs ist mit dabei.

«Mitte der 1980er Jahre traf das kulturelle Erbe der Gegenkultur auf die ökonomische Macht der Computer-Industrie», sagt Fred Turner. «Die Computeringenieure bekamen daraufhin mehr Ansehen, wurden cool, und der Nimbus der Gegenkultur, die beinahe schon verschwunden war, erwachte mit der Technologie wieder zu neuem Leben.»

Computerindustrie trifft auf Gegenkultur

«Die Computerindustrie liebte die Gegenkultur, da sie die Vision einer Freiheit verkörperte, die zu ihrer kapitalistischen Version der Freiheit passte», sagt Thomas Frank. «Es war keine Freiheit, wie sie beispielsweise linke Gewerkschaften in den 1930er Jahren forderten. Unter Freiheit verstand man nun unbedingten Individualismus.»

Der Nonkonformist als Trendsetter, der Personal Computer als Medium der Freiheit: Im Werbespot zur Markteinführung des ersten Apple-Computers im Jahr 1984 wird deutlich, wie die Computerindustrie das Erbe der Gegenkultur für sich nutzte. In dem Spot befreit sich eine junge Frau vom an George Orwells angelehnten «Big Brother».

«Das Video von Apple steht für genau den Augenblick, an dem der Idealismus der Gegenkultur endgültig in Marketing-Hype umschlägt», erklärt Fred Turner. «Apple war schon 1984 eines der geschlossensten Systeme da draussen. Auch wenn Apple immer vorgab, für die Gegenkultur zu stehen, die sich dem Staat widersetzt. Die Ironie ist, dass die Schritte, die Apple seitdem unternommen hat, uns einer Welt näher gebracht haben, die mehr wie 1984 aussieht, als wir zu glauben wagen.»

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Interview mit Andrew Keen (engl.)
Aus Kultur Extras vom 06.12.2013.
abspielen. Laufzeit 7 Minuten 51 Sekunden.

Teilen, um Geld zu verdienen

Der Mythos des Silicon Valley müsse endlich entzaubert werden, sagt der Internetkritiker und ehemalige Investor Andrew Keen. «Dass Technologie etwas Besonderes sei, dass diese Revolution anders, dass sie gut für die Menschheit sei – alle revolutionären Bewegungen formulieren ihre Ideologien in einer universellen Sprache. Und das ist immer eine Lüge, ein Schleier, der ihre eigentlichen Interessen verbirgt.»

Teilen, um Geld zu verdienen, Freiheit, um Märkte zu bedienen – das ist das Erbe der kalifornischen Gegenkultur. Und wen sollte es da noch wundern, dass das Silicon Valley unsere Daten auch mit dem US-amerikanischen Geheimdienst teilt – schliesslich zahlt der ja ganz gut.

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