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Ein Mann mit einer VR Brille tastet suchend mit seinen Händen durch die Luft.
Legende: Virtuelle Realität fasziniert – und erreicht doch nicht die Massen. Wie geht es mit ihr weiter? Getty Images/Westend61

Virtuelle Realität Ist der virtuelle Traum geplatzt?

Virtual Reality wird uns seit Jahren als das nächste grosse Ding verkauft. Der Durchbruch bleibt aus. Weshalb? Eine Auslegeordnung.

2045: Die Erde ist trist, verwüstet, hässlich. Es gibt kein Öl mehr. Keine Natur. Inmitten dieser Müllhalde lebt der Teenager Wade Watts.

Doch in Wirklichkeit lebt Wade Watts in einer anderen Wirklichkeit: Jeden Tag zieht er sich in sein Versteck zurück, einen alten Bus. Dort setzt er seine Datenbrille auf und schlüpft in ein Paar Datenhandschuhe, die ihn mit einem Computer verbinden. So betritt er die virtuelle Welt «Oasis».

Ein junger Mann mit VR-Brille steht in einem zugemüllten Lieferwagen und streckt die Hand aus.
Legende: Wade Watts im Film «Ready Player One»: Die Realität ist kaputt, die virtuelle Realität verlockend. Warner Bros. Entertainment

Schon bald fährt er mit seinen Freunden waghalsige Autorennen durch das New York der Zukunft. Oder schwebt in einem Club schwerelos über die Tanzfläche. Wade Watts geht auch in der «Oasis» zur Schule.

Virtuelle Realität: The Next Big Thing?

Er ist nicht allein: Der Grossteil der Menschheit verbringt ihr Leben in der «Oasis». Das ist die Ausgangslage des Romans «Ready Player One» von Ernest Cline, jüngst verfilmt von Steven Spielberg.

«Oasis» ist eine virtuelle Welt, die lebenswerter ist als die echte Welt. Das hört sich an wie ein Werbeslogan einer grossen Technologiefirma. YOLO, «You Only Live Online». Davon sind wir aber im Jahr 2018 noch weit entfernt. Obwohl es Facebook, Samsung, HTC und viele Investoren lieber anders hätten.

Geht es nach ihnen, soll Virtual Reality schon bald ein wichtiger Teil unseres Alltags sein: «The Next Big Thing», dem man hohe Wachstumsraten prognostiziert. Das hiess es bereits 2015, 2016, 2017.

Die Verkäufe von VR-Headsets blieben aber hinter den Erwartungen zurück. Es sind drei bis fünf Millionen pro Jahr, weltweit.

Zuerst noch zu unausgereift

Schon Mitte der 1990er-Jahre versprach man sich viel von der VR-Technologie. Damals brachten die Videogame-Hersteller Sega und Nintendo mit dem «VR-1» und dem «Virtual Boy» die ersten massentauglichen Virtual-Reality-Geräte auf den Markt.

Die Technologie war in den 90ern aber noch so unausgereift, dass man sich schnell wieder auf den lukrativeren Markt der konventionellen Spiele konzentrierte. Danach blieb es 15 Jahre ziemlich ruhig um die Technologie.

Ein Mann trägt eine rote VR-Brille mit der Aufschrift Virtual Boy.
Legende: Seiner Zeit voraus: der «Virtual Boy», eine Spieler-Brille von Nintendo. Reuters

Dass Virtual Reality überhaupt wieder zum grossen Thema wurde, ist dem Unternehmen Oculus VR zu verdanken. Mit ihrer «Rift»-Brille hat die kalifornische Firma das erste kommerziell erfolgreiche VR-Produkt überhaupt produziert.

Hoffen auf den Boom

2016 kam «Rift» auf den Markt und wurde schnell zum Verkaufshit. Denn die VR-Brille war bezahlbar, hatte ein grösseres Display und viel bessere Sensoren als die alten Geräte. Firmen wie Sony, Samsung, HTC und Microsoft zogen nach.

Eine Frau mit VR-Bitlle und Kabl in einem pink ausgeleuchteten Raum.
Legende: Machte Virtual Reality massentauglich: die «Rift»-Brille von Oculus. Reuters

Trotzdem blieb der grosse Virtual-Reality-Boom bis jetzt aus. Je nach Schätzung wurden bis heute weltweit über 20 Millionen VR-Headsets verkauft. Das klingt nach viel, ist aber im Vergleich mit dem Smartphone-Markt verschwindend wenig: Apple verkauft pro Quartal 50 bis 70 Millionen iPhones.

Keine Nutzer ohne konkreten Nutzen

Der Hauptgrund für die unbefriedigenden Verkäufe bleiben die fehlenden Apps. Könnte man mit einem Smartphone nur telefonieren – es würde niemanden interessieren. Jedes Gerät braucht einen konkreten Nutzen, damit man es in die Hand nimmt. Sei dies die SBB-App, Youtube, Whatsapp oder die Kamerafunktion des Handys.

Doch welche Apps bringen Leute dazu, ein VR-Headset zu kaufen? Die naheliegendste Antwort: Computerspiele. Wer eine VR-Brille anzieht, taucht vollständig in die Spielwelt ab. Sucht Schätze 20’000 Meilen unter dem Meer, erforscht als Ritter unendliche Fantasy-Welten – und das alles komplett abgeschottet von der Aussenwelt.

Was ist virtuelle, was erweiterte Realität?

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Legende: Reuters

Virtual Reality

Die virtuelle Realität ist eine komplett virtuelle Umgebung, in der man sich bewegen kann. Man benötigt dazu eine VR-Brille. Eine Übersicht der erhältlichen Geräte gibt es hier.

Augmented Reality (erweiterte Realität):

Augmented Reality ist eine virtuelle Ergänzung unserer Realität. Durch das Handy oder eine spezielle Brille sieht man zusätzliche Informationen, die die Realität erweitern.

Bekannte Anwendungen sind etwa das Spiel «Pokémon Go» , bei dem man sich in der realen Welt bewegt und durch das Smartphone Monster fängt. Oder «Google Translate», das einem auf dem Display die übersetzte Version anzeigt, wenn man die Handykamera auf ein Schild in einer fremden Sprache richtet.

Augmented Virtuality (erweiterte Virtualität):

Eine Mischung aus virtueller Welt und Aussenwelt. Das Haupterlebnis, zum Beispiel ein Spiel, findet in der virtuellen Welt statt. Diese reagiert aber auf Gegenstände in der realen Welt.

Zum Beispiel eine Wasserrutschbahn mit VR – während man rutscht, sieht man via VR-Brille eine andere Welt. Oder Computerspiele in VR-Spielhallen: Holzstäbe etc. sind dort mit VR-Sensoren ausgerüstet und können angefasst werden. Durch die VR-Brille kann man sie in der virtuellen Welt sehen und benutzen, z.B. als Fackeln oder Schwerter.

Das entspricht dem Wunsch vieler Gamer. Zahlungsfreudige Kunden gäbe es genug: Der globale Computerspielemarkt hat ein jährliches Marktvolumen von über 100 Milliarden US-Dollar.

«VR-Games sind ihr Geld noch nicht wert»

Doch ausgerechnet die Gamer zögern mit dem Kauf von VR-Headsets. Denn die meisten VR-Games sind ihr Geld noch nicht wert, sagt Martina Gassner, VR- und Game-Expertin bei SRF:

«Klar, es gibt Ausnahmen wie ‹Resident Evil 7 Biohazard›, quasi ein Horrorfilm, in dem man die Hauptrolle spielt. Oder verschiedene Autorennen, die überzeugen. Aber die besten Virtual-Reality-Spiele sind auch als 2D-Spiele auf dem normalen Fernseher gut.»

Ein Mann trägt ein Oculus Brille in einem dunklen Raum.
Legende: Brille an, mittendrin: Bei manchen Games funktionert's. Bei vielen nicht. Keystone

Zudem gebe es oft einen Kabelsalat, mühsame Software-Einstellungen und zu kleine Wohnzimmer, die das VR-Erlebnis mindern.

Nach einer Stunde ist Schluss

Ein weiteres zentrales Problem ist die VR-Krankheit. Sie kann während des Spielens mit VR-Brille entstehen, wenn unser Gleichgewichtsorgan etwas anderes wahrnimmt als unsere Augen. Wenn wir also beispielsweise unseren Kopf drehen und der Bildschirm in der VR-Brille nicht schnell genug reagiert.

Übelkeit, Kopfschmerzen und sogar Erbrechen sind die Folge. Selbst hartgesottene Enthusiasten benutzen eine VR-Brille kaum länger als eine Stunde am Stück.

Alle setzen auf Social VR

Wer aber könnte sonst am Erwerb von VR-Brillen interessiert sein, wenn nicht Gamer? Die simple Antwort der Technologiekonzerne: alle anderen.

2014 ging ein Raunen durch die Onlinewelt. Facebook, das grösste soziale Netzwerk kaufte für 2,3 Milliarden US-Dollar die Firma Oculus VR, den führenden Entwickler von Virtual-Reality-Brillen.

Soziale Netzwerke und virtuelle Realität: Wie passt das zusammen? Denkt man an den Roman «Ready Player One», sehr gut. Hauptfigur Wade Watts geht in der virtuellen Welt zur Schule, besucht dort Partys oder trifft Freunde. Der Ausdruck der Stunde lautet: soziale virtuelle Realität, kurz «Social VR».

«Second Life»: der Social-VR-Pionier

Würde nur ein Teil der zwei Milliarden Facebooknutzer bei einem virtuellen sozialen Netzwerk mitmachen – es wäre ein lukratives Geschäft für die Werbeindustrie. Aber auch für die Teilnehmer: Sie könnten mit virtuellen Gegenständen handeln, virtuelle Grundstücke kaufen und verkaufen. Der Betreiber einer solchen Welt könnte durch Provisionen mitverdienen.

Dieses Modell funktioniert. Das hat die virtuelle Welt «Second Life» bereits gezeigt, die 2003 online ging. Schon bald wollten alle in diesem virtuellen Universum präsent sein: Firmen, Unis, Stars.

Eine Gruppe von Avataren in Second Life vor einem Spieleplakat.
Legende: «Second Life» bewies, dass sich in virtuellen Welten reales Geld machen lässt. Reuters

In «Second Life» führt man mit einem Avatar ein virtuelles Leben, es gibt Konzerte und Ausstellungen, die man besuchen kann. Und es existiert eine virtuelle Währung, der «Linden Dollar». Nutzerinnen und Nutzer können damit Dinge oder Dienstleistungen kaufen und verkaufen.

Die virtuelle Welt läuft weiter

Das Smartphone setzte dem Hype 2007 ein Ende. «Second Life» war nicht für das kleine Display programmiert. Auch mit den VR-Headsets von heute ist es nicht kompatibel. Trotzdem besuchen heute monatlich noch fast eine Million Menschen die virtuelle Welt. 2015 wurden so in «Second Life» rund 60 Millionen US-Dollar verdient.

Eine Gruppe männlicher und weiblicher Avatare in einer virtuellen Spielumgebung.
Legende: Schöne, neue «Second Life»-Welt: Avatare in «Sansar». Flickr/Sansar Official

Linden Lab, die Firma hinter «Second Life», ist aber bereits einen Schritt weiter: Mit «Sansar» brachte sie 2017 den VR-Nachfolger von «Second Life» auf den Markt. Linden-Lab-Gründer Philip Rosedale hat die Firma inzwischen verlassen und mit «High Fidelity» eine eigene virtuelle Welt gestartet.

Ein Drink an der virtuellen Bar

«Sansar» und «High Fidelty» sind nicht die einzigen «Second Life»-Erben. Es gibt auch «RecRoom», «VR Chat», «AltspaceVR», «Spaces» (die VR-App von Facebook) und viele mehr. VR-Brille auf, Social-VR-Software starten – und schon kann man virtuell tun, was man will.

Oder das, was man schon täglich im echten Leben tut: In eine Bar oder zu einem Konzert gehen, Tennis oder Poker spielen oder die Natur erforschen. All dies mit Leuten, die man vielleicht soeben erst kennengelernt hat und im Körper einer Figur, die man selbst entworfen hat.

 Eine Szene aus einer Onlinewelt: Ein grüner Fuchs, eine dicke Cartoonfigur und ein Mann stehen nebeneinander.
Legende: Warum nicht den Abend im Kreise virtueller Freunde verbringen? Eine Szene aus «High Fidelity». High Fidelity

Klingt eigentlich verlockend. Trotzdem sind Social-VR-Plattformen bis jetzt nicht zu beliebten Treffpunkten geworden. Wer eine solche virtuelle Welt besucht hat oder sich auf Youtube eines der vielen Videos daraus anschaut, weiss auch warum: Sind zu viele Leute präsent, ist die Verständigung schwierig.

Die VR-Engine stösst an ihre Rechengrenzen. Auch die Fortbewegung hat ihre Tücken. Und manchmal ist man auch einfach nur alleine in der neuen Welt.

«Wie im Garten meditieren»

In «Sansar» halten sich zu den besten Zeiten rund 50 Spieler gleichzeitig auf. Etwa ähnlich wenige sind es in der Welt von «High Fidelity». «Rec Room» zählt mehrere Hundert Nutzerinnen und Nutzer gleichzeitig und «VR Chat» sogar mehrere Tausend.

Verglichen mit der Anzahl Menschen, die täglich auf sozialen Medien wie Facebook, Twitter oder Instagram interagieren, ist das ein Tropfen auf den heissen Stein. Oder wie es ein Nutzer bei Youtube kommentiert: «Wer schön designte Welten anschauen mag, findet es toll. Aber es passiert so wenig, man könnte auch im eigenen Garten meditieren.»

Angsttherapie im virtuellen Raum

Die Gamer sind nicht begeistert. Freunde von Avataren und virtuellen Welten begnügen sich lieber mit «Second Life», anstatt eine VR-Brille aufzusetzen. Wo also funktioniert VR?

Die virtuelle Realität begeistert momentan vor allem Menschen, die einen praktischen Nutzen in der Technologie sehen – zum Beispiel Ärzte oder Psychologinnen.

Etwa Professor Dominique de Quervain, der an der Universität Basel zur Behandlung von verschiedenen Angststörungen mit Hilfe von Virtual Reality forscht. Im virtuellen Raum können sich Patienten gezielt Spinnen aussetzen, in schwindelerregende Höhen oder überfüllte Trams begeben und so an ihren Phobien arbeiten.

Die Therapie ist erschwinglich geworden

Auch diese Idee ist nicht neu. Virtuelle Realität zur Behandlung von Angststörungen wurde unter Skip Rizzo an der University of Southern California schon Mitte der 1990er-Jahre eingesetzt.

Die VR-Geräte sind heute aber viel günstiger und besser. «Bis vor Kurzem war VR für die meisten Therapeuten viel zu teuer. Wahnsinnig immersiv war es auch nicht», erklärt Dominique de Quervain, Leiter der Abteilung Kognitive Neurowissenschaften der Universität Basel: «Jetzt sind wir an einem revolutionären Punkt angelangt: Für ein paar Tausend Franken kann sich jeder Therapeut eine absolute High-End-Ausrüstung kaufen.»

Die Industrie hat kaum Interesse

Doch im Gegensatz zu VR-Games oder Social VR, wo es genügend Apps gibt, fehlen die Anwendungen für die Therapie noch. «Das Interesse der VR-Industrie an Therapie-Apps ist zu klein», musste de Quervain feststellen.

Sein Team entwickelt darum aktuell gleich drei eigene VR-Therapie-Apps: eine gegen Höhenangst, eine gegen soziale Angst und eine gegen Spinnenangst. Das Ziel ist, dass jeder Betroffene sich diese Apps herunterladen und auch mit einem einfachen System, zum Beispiel mit dem Smartphone, nutzen kann.

Chirurgen simulieren Operationen

Auch am Universitätsspital Basel setzt man auf Virtual Reality. Aus den zweidimensionalen Computertomografie-Schnittbildern erzeugt die Software «SpectoVive» des Teams um Professor Philippe C. Cattin ohne Verzögerung eine virtuelle Umgebung.

Der Arzt kann dann mit Hilfe von VR-Brillen die Bilder aus der Tomografie aus jedem beliebigen Winkel betrachten und sich so optimal auf die Operation vorbereiten.

Das hilft auch den Patienten: Zusammen mit der Ärztin können sie sich in der virtuellen Realität den bevorstehenden Eingriff zeigen lassen. «Die Patienten haben das sehr geschätzt und konnten den Eingriff schneller verstehen», erzählt Philippe C. Cattin.

Er ist überzeugt, dass sich die virtuelle Operationsvorbereitung durchsetzen wird. Am Unispital Basel sind bereits vier VR-Räume in Planung. «Klar kann man nicht jede Operation damit besser oder schneller vorbereiten. Aber für viele wird es sich als hilfreiches Instrument etablieren.»

Beweis unseres Bewusstseins

Auch wenn der Massenerfolg noch aussteht: Virtual Reality begeistert Menschen aus den unterschiedlichsten Bereichen. Sogar Philosophen, denn Virtual Reality vermittelt uns neue Einsichten über den menschlichen Geist.

Wissenschaftler wie der US-amerikanische VR-Pionier Jaron Lanier oder der Philosoph Thomas Metzinger sind überzeugt: Die virtuelle Realität ist das Werkzeug, um unser Hirn besser zu verstehen.

Lanier hat den Begriff «Virtual Reality» bereits in den 1980er-Jahren salonfähig gemacht. Er gründete das erste Unternehmen, das VR-Produkte verkaufte, unter anderem für Medizin und Design. Letztes Jahr veröffentlichte er sein neuestes Buch «Dawn of the New Everything: Encounters with Reality and Virtual Reality», das im September auf Deutsch erscheint.

Buchhinweis

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Jaron Lanier: «Anbruch einer neuen Zeit. Wie Virtual Reality unser Leben und unsere Gesellschaft verändert». Hoffmann und Campe, September 2018.

Für ihn ist eine der Haupterrungenschaften der virtuellen Realität, die Erkenntnis «zu sein». Selbst wenn sich alles um uns herum verändert, wir uns in der virtuellen Realität in einen anderen Körper begeben, bleiben wir «wir». Virtual Reality sei daher der Beweis, dass das Bewusstsein existiert.

Unser Hirn akzeptiert fremde Körper

In «Dawn of the New Everything» beschreibt Lanier eine weitere interessante Einsicht, die Virtual Reality ermöglicht hat: Unser Hirn ist erstaunlich plastisch, was den Körper betrifft.

Wenn man dem Hirn sagen will: «Ich bin eine Qualle» und der eigene virtuelle Körper beim Blick nach unten aussieht wie eine Qualle, dann akzeptiert unser Hirn diese Botschaft.

Auch können wir Körperteile bewegen, die uns durch die Evolution abhandengekommen sind. Eine Studie zeigte zum Beispiel, dass Menschen einen virtuellen Schwanz mit Sensoren an den Hüften steuern konnten. Lanier vermutet, dies könnte eine Folge der menschlichen Evolution durch so viele verschiedene Körper über 100 Millionen von Jahren sein.

Anderer Körper, dasselbe Ich

Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch Thomas Metzinger. Er erforscht an der Uni Mainz unser Ich-Gefühl. In einem VR-Versuch konnte er zeigen, dass das Ich-Gefühl nicht zwingend an unseren eigenen Körper gebunden ist. Auch eine virtuelle Figur kann sich so anfühlen, als gehöre sie zu uns selbst.

Ein faszinierender Gedanke, den auch der Teenager Wade Watts in «Ready Player One» unterstreicht. «Menschen gehen in die ‹Oasis› für all das, was sie dort tun können. Aber sie bleiben in der ‹Oasis› für das, was sie dort sein können», sagt er, nachdem er drei Tage in der virtuellen Welt unterwegs war.

Der Durchbruch steht noch aus

Ob diese philosophischen Einsichten der virtuellen Realität zum lang ersehnten Erfolg verhelfen? Zweifel sind angebracht. Was aber sicher ist: Mit der zunehmenden Verbreitung von VR-Headsets werden wir neue Möglichkeiten finden, die virtuellen Welten und Körper zu nutzen. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt.

Ob eine dieser Ideen die «Killer App» sein wird – der Durchbruch, auf den alle warten – ist ungewiss. Virtual Reality hat zwar heute in vielen Nischen einen hohen Nutzen, aber die Nutzung im eigenen Zuhause kann noch nicht mithalten.

Die Schönheit der grauen, schäbigen Realität

Smartphones, Tablets und auch das Internet haben zwischen 5 bis 15 Jahre benötigt, bis eine 50-Prozent-Marktpenetration erreicht wurde, sie also die Hälfte der möglichen Käufer erreicht haben. Davon ist VR noch weit entfernt: Der einfache Zugang zu den vielen verlockenden Möglichkeiten fehlt.

Einen garantierten «Wow-Effekt» bietet die virtuelle Realität aber schon jetzt: «Jeder, der schon mal eine Weile in einer verpixelten virtuellen Welt verbracht hat, und danach die VR-Brille auszieht, stellt fest: Das graue Büro oder das schäbige Hotelzimmer haben nie besser ausgesehen», schwärmte Jaron Lanier jüngst im Gespräch mit dem Journalisten Ezra Klein. Virtual Reality macht uns also die Schönheit unserer echten Welt bewusst.

«Für viele bleibt VR eine fragwürdige Erfahrung»

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Neal David Hartmann.

Neal David Hartman ist Ingenieur am CERN, Filmregisseur und Manager des «World VR Forums» in Crans Montana.

SRF: Wieso ist VR noch nicht der Durchbruch gelungen?

Neal David Hartman: VR als Technologie kann bereits jetzt in vielen Bereichen bahnbrechende Dinge tun. Als kreatives Medium, also wenn man es als Nachfolger des Kinos oder Fernsehens betrachtet, ist es fraglich, ob es das nächste grosse Ding sein wird.

Der VR-Hype ist aber von Investoren oder grossen Unternehmen getrieben. Oculus hat Jahre und viel Geld in Virtual Reality investiert. Samsung auch. Sie alle versuchen verzweifelt sicherzustellen, dass diese Dinge, die sie erfunden haben, für etwas nützlich sind.

Müsste es nicht umgekehrt sein: Man denkt an einen Nutzen und entwickelt dann die Technologie?

Auch das Medium Kino ist aus einem Streben nach besserer Technologie heraus entstanden. Die Leute versuchten dann, etwas über die Welt durch dieses neue Werkzeug zu erfahren. Dann fiel es in die Hände von Künstlern, die alles Mögliche damit gemacht haben.

Bei VR ist es gleich. Jetzt müssen wir sehen, ob Künstler es verwenden und in welche Richtung sie damit gehen.

Muss dafür einfach die Technologie noch besser werden?

Selbst mit besserer Technologie bleibt VR für viele Menschen eine fragwürdige Erfahrung. Um VR nutzen zu können, muss man sich an einem sicheren Ort befinden. Man ist völlig von der realen Welt abgeschnitten.

Ich weiss nicht, ob die Menschen je entspannt mit einem VR-Headset im Zug sitzen werden, vollständig von ihrer Umgebung getrennt. Aber ich hätte auch nie gedacht, dassMenschen einmal so an ihre Smartphones gefesselt sind.

Wie sieht die Zukunft der virtuellen Realität aus?

Der Clou ist herauszufinden, was an VR einzigartig ist und wie es für etwas kapitalisiert werden kann, das es nicht schon irgendwo anders gibt.

Eventuell geht es mehr in Richtung Augmented oder Mixed Reality. Mit Geräten, mit denen man VR-Inhalte sehen kann, die einen aber nicht vollständig von der Aussenwelt trennen. Dass Augmented Reality sehr erfolgreich sein kann, hat das Spiel «Pokémon Go» ja zum Beispiel schon gezeigt.

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