- Die Produktionsfirma «Serial Productions» hat am 28. März einen neuen Podcast herausgebracht: «S-Town» schnellte auf den Podcast-Hitparaden auf den ersten Platz .
- Das Werk wurde als Ganzes veröffentlicht – ein Novum in der Podcast-Produktion.
- Anders als der Drama-Podcast «Serial» ist «S-Town» kein ungelöster Kriminalfall , sondern eher ein Tatsachen-Roman, der wie literarischer Journalismus daherkommt.
Zu Besuch in Shit-Town, Alabama
Die Spannung ist gross. Endlich ist der Podcast online, dessen Trailer (!) in den letzten Wochen die iTunes-Charts anführte. «S-Town» belegt sogleich die Nummer 1. Und zwar nicht nur in den USA, in Australien und Grossbritannien, sondern auch in Deutschland.
Mord, Rätsel und Geheimnisse – dies haben die Macher im Vorfeld versprochen. Eines der Rätsel löst sich bereits zu Beginn des Podcasts. Während amerikanische Medien darüber spekulierten, in welchem Ort mit S die wahre Geschichte spielt, wird jetzt klar, «S-Town» heisst Shit-Town und ist der ländliche Ort Woodstock in Alabama. Dort leben vorwiegend Weisse, deren Tattoos und rüde Sprache dem New Yorker Journalisten Brian Reed erst einmal ziemlich Respekt einflössen.
Manisch-depressiver Protagonist
Reeds Geschichte geht zurück ins Jahr 2013, als sich ein gewisser John B. McLemore meldet. Es gebe viel aufzudecken in Shit-Town. Ein Sohn aus wohlhabender Familie prahle damit, einen Mord begangen zu haben und dafür nicht belangt worden zu sein.
Brian braucht Zeit, bis er sich für den Mittvierziger interessiert, der manisch lange Mails über seine depressive Sicht der Welt schreibt. Doch dann zieht es ihn rein in die Geschichte.
Der Journalist reist an den Ort des Geschehens, spricht mit Dutzenden Menschen, nimmt Hunderte Stunden Ton auf. Was er zusammengetragen hat, erzählt er in sieben rund einstündigen Kapiteln.
«S-Town» ist nicht «Serial»
Die Produktionsfirma «Serial Productions» hat nun das ganze Paket zusammen online gestellt – ein einzigartiges Vorgehen bei Podcasts, aber durchaus üblich bei Filmserien-Anbietern wie Netflix. Wer will, kann also sieben Stunden am Stück hören. Binge-Listening heisst das auf Englisch.
Bis jetzt kamen einzelne Episoden von Podcastserien typischerweise im Wochenrhythmus heraus – um die Spannung über lange Zeit hochzuhalten. So war es beim grossen Vorbild «Serial». Doch «S-Town» ist nicht «Serial». «S-Town» ist mehr Tatsachen-Roman als eine Serie über einen ungelösten Kriminalfall.
Das Werk als Ganzes zu veröffentlichen, hat für die Macher den Vorteil, zu Beginn einer neuen Episode nicht jedes Mal die Vorgeschichte erzählen zu müssen. Und das Ende der Kapitel kommt ohne die üblichen Cliffhanger aus, wo es so unerträglich spannend werden muss, dass man nach einer Woche ungeduldig die nächste Episode herunterladen will.
Hochseilakt der journalistischen Empathie
«S-Town» entwickelt einen Sog, der nicht von kurzlebiger Spannung lebt. Besonders deutlich macht dies die Tatsache, dass die Geschichte bereits am Ende des zweiten Kapitels kulminiert, bevor noch fünf Stunden folgen. Der Journalist Reed und mit ihm der Zuhörer werden mit einer völlig unerwarteten, schlechten Nachricht konfrontiert.
Worum es sich dabei handelt, wird hier natürlich nicht verraten. Die Nachricht bringt aber Erzähler Brian Reed und den Zuhörer ziemlich aus dem Konzept. Was folgt, ist literarischer Journalismus vom Feinsten, der menschliche Abgründe und Mysterien ausleuchtet und einem unter dem Kopfhörer in den Bann zieht.
Reeds Recherche und Erzählung ist ein Hochseilakt der professionellen Empathie – er meistert ihn, ohne in unwürdigen Voyeurismus zu verfallen. Die sieben Kapitel von «S-Town» schreiben ein neues Kapitel in der Podcastgeschichte.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur kompakt, 29.03.2017, 17.15 Uhr