«Ich bin wie ein Glas Wasser», erklärt sich Anne-Chantal Daum. «Alle Einflüsse, die ich übers Ohr, die Augen und den Körper aufnehme, sind wie Wasser, das ins Glas fliesst. Und wenn das Glas überläuft, habe ich Schwindel.» Jahrelang konnte die 49-Jährige kaum mehr aufstehen. Musste liegen, ohne zu lesen, ohne Musik zu hören. Einfach nur liegen.
«Mein Gehirn funktioniert nicht»
Es ist ein Sonntagmorgen im Februar, der ihr Leben komplett auf den Kopf stellt. Anne-Chantal Daum erwacht – und das Zimmer dreht sich. Es dreht sich immer weiter. Die damalige Online-Redaktorin bei Radio DRS schafft es gerade noch, die Arbeitskollegen anzurufen. Sie könne heute nicht ins Büro kommen.
Die Ärzte sagen, es sei eine faustgrosse Entzündung im Hinterkopf, eine sogenannte Mastoiditis, die ihr auf das Innenohr drücke. Dort liegt das Gleichgewichtsorgan. Es wird Antibiotika verschrieben. Nach drei Monaten heisst es, sie sei wieder gesund. Aber der Schwindel ist noch da.
Dann kommen Wortfindungsstörungen hinzu, Anne-Chantal Daum kann nicht mehr lesen. «Mein Gehirn funktioniert nicht», wiederholt sie immer und immer wieder, als sie in eine Klinik eingewiesen wird.
Ich musste mich auf allen Vieren aufs WC schleppen.
«Ich habe alles wie durch Nebel gesehen und durch Watte gehört. Ich hatte keine Ahnung, was los ist. Es war schrecklich», erzählt sie. «Ich musste mich auf allen Vieren aufs WC schleppen.» Dann, endlich, gibt es eine Diagnose: Das Gleichgewichtsorgan im linken Ohr ist kaputt. Heilung? Gibt es nicht. Die Zellen regenerieren sich nicht. «Ich wusste nicht, ob ich je wieder gehen kann.»
Aus der Not zur Konfi-Weltmeisterin
Heute ist die gebürtige Bernerin zweifache Weltmeisterin im Konfitüre kochen. Zwetschge mit schwarzer Schokolade, Blutorange mit Rum, Mandarine mit Lebkuchengewürz und Mandeln: Anne-Chantal Daums Kreationen gehören zu den Besten der Welt.
Es ist die Not, die kreativ macht. Eigentlich suchte Daum einige Zeit nach der Diagnose und vielen Therapiestunden einen neuen Job – wegen ihrer Krankheit ein aussichtsloses Unterfangen. «Dass mich niemand einstellen wollte, hat mir die Augen geöffnet. Ich wusste, dass ich selber etwas machen muss.»
Ob ich stehe oder nicht, weiss ich nur, weil ich Druck auf den Zehen und den Fersen habe.
Und dann bringt ihr eine Freundin eines Tages fünf Kilo überreife Nektarinen aus Italien mit. Damit kocht Daum ihre erste Konfitüre. Mit Lavendel. «Weil ich Lavendel liebe. Aber das Ergebnis war ernüchternd. Am nächsten Tag habe ich dazu ein Stück Greyerzer-Käse gegessen. Das war eine Geschmacksexplosion!» Daum geht mit ihrer Kreation auf den Wochenmarkt. Die Leute sind begeistert.
«Am Ende hat mir die Krankheit viel Glück gebracht»
Dass Anne-Chantal Daum heute, 14 Jahre nach dem ersten Schwindel, im Radiostudio sitzen und von ihrem Leben erzählen kann, ist das Resultat von jahrelangem Körpertraining. Ihr Gleichgewicht ist im Vergleich zu anderen Menschen übertrainiert. Denn: «Das innere Gleichgewicht habe ich nicht mehr, ich spüre es nicht. Ob ich stehe oder nicht, weiss ich nur, weil ich Druck auf den Zehen und den Fersen habe.»
Anne-Chantal Daum hat gelernt, mit ihrer Situation zu leben. Und sagt heute: «Meine Krankheit, so schrecklich sie ist, hat mir am Ende viel Glück gebracht.»
Das Gespräch mit Anne-Chantal Daum kann hier nachgehört werden.