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Panorama Gemeinsam einsam in der Schweiz?

Schweizerinnen und Schweizer fühlen sich einsam. Nicht alle, aber doch eine beachtliche Zahl. Dies zeigt die jüngste Bilanz der «Dargebotenen Hand» (Tel 143). Wer betroffen ist und warum jeder unbedingt helfen sollte, erörtern zwei Experten aus je ganz verschiedenen Blickwinkeln.

Die gute Nachricht vorweg: Das Sorgentelefon der «Dargebotenen Hand» hat im vergangenen Jahr etwas weniger Anrufe registriert. Der Wermutstropfen: Der Anteil an Telefongesprächen wegen Einsamkeit habe nicht dramatisch, aber doch deutlich zugenommen. Nach Einschätzung der Mitarbeiter von «Tel 143» machen diese nicht mehr acht Prozent der Anrufe aus, sondern neu elf Prozent.

Kein altersspezifisches Phänomen

Der Mensch ist ein Sozialwesen, weil ihn die Evolution zu einem Sozialwesen gemacht habe, sagt Lutz Jäncke, Professor für Neuropsychologie an der Universität Zürich. «Darum kann man verstehen, wie wichtig es ist, dass wir Menschen um uns haben, die uns bestätigen, Bindung und Sicherheit geben.»

Menschen um uns sind für uns so wichtig wie die Luft zum Atmen.
Autor: Lutz Jäncke Professor für Neuropsychologie an der UZH

Und Jäncke konkretisiert: «Einsamkeit entsteht also aus dem Entkoppeln und dem Nicht-Befriedigen von einem der wichtigsten biologischen Antriebe, über die ein Mensch verfügt, nämlich die soziale Bindung.»

66 Anrufe pro Tag

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Das Sorgentelefon «Tel 143» hat im vergangenen Jahr 218'831 Mal geklingelt. Elf Prozent der Gespräche hatten die Empfindung von Einsamkeit zum Inhalt. Das bedeutet, dass täglich fast 66 Menschen bei der «Dargebotenen Hand» anrufen, die sich einsam fühlen.

Für Franco Baumgartner, Mitarbeiter bei «Tel 143» ist Einsamkeit weder geschlechtsspezifisch noch ein Problem des Alters oder des sozialen Status. Vielmehr fühlten sich verschiedene Menschen einsam, wenn ihr gesellschaftliches Netz dünn werde, etwas «wenn sich Beziehungen auflösen, die einen sonst tragen». Das könne etwa geschehen, wenn jemand in die Abhängigkeit einer Invalidenrente gerate oder wenn Kinder nicht mehr hinter ihren Eltern stünden und umgekehrt.

Ein weiterer Aspekt ist laut Baumgartner auch die zunehmende Zahl von Single-Haushalten, die jüngere, aber durchaus auch ältere Menschen betreffe.

Die Empfindung als Teufelskreis

Baumgartner von «Tel 143» weiss auch, inwiefern sich das Gefühl von Einsamkeit von selbst verfestigt: «Ob jemand einsam ist, hat viel mit Selbstwert zu tun. Wenn jemand wenig Selbstwert hat, verliert er auch den Mut, sich in die Gesellschaft einzubringen.»

Schlimmstenfalls glauben die Einsamen, dass sie gar keinen Wert für die Gemeinschaft haben.
Autor: Franco Baumgartner Mitarbeiter bei «Tel 143»

Dabei ist Einsamkeit laut den Experten ein zeit- und kulturspezifisches Phänomen. «Einsamkeit häuft sich in einer Gesellschaft, die auf Leistung getrimmt ist», erklärt Baumgartner. Und sie komme heute deshalb verstärkt vor, weil uns mit dem Individualismus auch die Grundeinstellung bestimme, «dass jeder seines eigenen Glückes Schmied ist.»

360 Facebook-Freunde

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Gemäss den jüngsten verfügbaren Zahlen hat ein Facebook-User im Schnitt 360 Freunde. Eine aktuelle Studie legt nahe, dass jeder über durchschnittlich 3,5 Ecken mit sämtlichen andern Facebook-Nutzern «befreundet» ist.

Der Neuropsychologe Jäncke ergänzt, dass sich der heutige Mensch in den angesagten sozialen Netzwerken selbst betrüge, weil die virtuellen Kontakte oft keine echten seien. «Je mehr wir unsere Kontakte in die digitale Welt verlagern, desto weniger wird unser urbiologisches Bedürfnis nach sozialen Beziehungen befriedigt.»

Zudem fördere die heutige Zeit die Einsamkeit auch insofern, als grössere Sozialgruppen wie etwa Grossfamilien zerfielen. Freiheiten, die wir genössen, gingen handkehrum auch mit Unsicherheiten einher, erklärt Jäncke: «Wenn das aus Referenzen und Regeln bestehende Gefüge zerbröselt, droht schlimmstenfalls die Einsamkeit, weil uns die Sicherheit verloren geht. Wir sind dann quasi verloren und freischwebend, ohne oder mit wenigen Bezügen zu anderen Menschen.»

Folgen für Betroffene und die Gesellschaft

Wird nichts gegen die Einsamkeit einzelner Menschen unternommen, kann das gravierende Folgen haben, warnt Franco Baumgartner: «Unbehandelt kann die Einsamkeit dazu führen, dass sich die Betroffenen damit abfinden und so leben. Einige dieser Personen, die in diesem Modus drin sind, nehmen dann regelmässig die Hilfe der ‹Dargebotenen Hand› in Anspruch.»

Doch auch für die Gesellschaft kann die Vereinsamung von Einzelnen zum Risiko werden. Lutz Jäncke betont mit Blick auf jüngere einsame Menschen: «Extreme Gruppen sind ideale Auffangbecken für Jugendliche, die orientierungslos oder einsam sind.» In islamistischen Gruppierungen zeige sich dann dasselbe groteske Phänomen wie etwa in rechtsradikalen Cliquen. «Jugendliche, die grundsätzlich nach Freiheiten streben, finden in strengen Regeln ihren Halt.»

So wie letztlich jeder unter Einsamkeit leiden mag, kann auch jeder etwas dagegen unternehmen, sagt Baumgartner. «Jeder von uns kann etwas tun. Er kann sich in seinem Umfeld bewusster fragen, wie es seinem Gegenüber geht und kann vielleicht ein Wort mit ihm wechseln.»

Was die Zielsetzung betrifft, kann sich dabei jedermann etwas von den Mitarbeitern bei «Tel 143» abschauen. So sagt Baumgartner mit Blick auf seine tägliche Arbeit:

Es geht im Gespräch mehr um das Respektieren als um das Reparieren.
Autor: Franco Baumgartner Mitarbeiter bei «Tel 143»

Und sollte einem die Einsamkeit seines Gegenübers allzu akut erscheinen, könne man – auch als Laie – den Betroffenen immer auch an einen spezialisierten Fachmann verweisen.

Sendebezug: SRF 4 News 08.02.2016, 10:00 Uhr

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