Warum gibt es uns und unsere Welt? Wie wird sich das Universum entwickeln? Seit sechs Jahrzehnten suchen Wissenschaftler am Europäischen Kernforschungszentrum bei Genf nach Antworten auf die grundlegendsten aller Fragen.
Zu diesem Zweck zerteilen Wissenschaftler Materie in ihre Bestandteile. Dabei hilft ihnen ein technologisches Ungetüm, das auch dem nüchternsten Naturwissenschaftler ein breites Grinsen ins Gesicht zaubert: Der 27 Kilometer lange Large Hadron Collider (LHC) – die komplexeste Maschine der Welt.
Europas Kampf gegen den «Brain Drain»
Heute ist das weltumspannende Wissenschafts-Netzwerk ein «Labor für die ganze Welt», wie es Generaldirektor Rolf-Dieter Heuer ausdrückt. Gegründet wurde es aber mit einem «egoistischen», europäischen Ziel: Die Forschung des «Alten Kontinents» sollte wieder zur international führenden Kraft werden. Europa drohe den Anschluss an die Vereinigten Staaten zu verlieren – so die Warnung von Initianten wie dem dänischen Physik-Nobelpreisträger Nils Bohr.
Dem Beispiel internationaler Organisationen folgend unterzeichneten 1952 zwölf europäische Staaten, darunter auch die Schweiz, die Gründungsurkunde. Die Absicht: Das Wissen sollte gebündelt, die Kosten geteilt werden. Seit dem 29. September 1954 wird seither am CERN physikalische Grundlagenforschung betrieben.
Friedensprojekt und Innovationsschmiede
Das Projekt entstand dabei zu ausdrücklich friedlichen Zwecken: So sind dem CERN waffenfähige Forschungen untersagt – keine Selbstverständlichkeit, legten doch eine Dekade zuvor europäische «Exil-Wissenschaftler» wie Albert Einstein in den USA die Grundlagen zum Bau der Atombombe. Ähnliche Ziele verfolgte das CERN nie – auch wenn manch einer im Teilchenbeschleuniger die grösste Massenvernichtungswaffe der Welt erkannte. Doch die Ängste, durch die Kollision von Protonen würde ein alles-verspeisendes «Schwarzes Loch» geschaffen, bestätigten sich nicht.
Neben abstrakten Welterklärungs- und -Untergangstheorien förderte das CERN aber auch Praxistaugliches zu Tage: Etwa moderne nuklearmedizinische Diagnostik basiert auf der Teilchenbeschleuniger-Technologie; sie machte Therapieformen möglich, die zur Krebsbekämpfung eingesetzt werden. Auch das World Wide Web war einst eine Art Nebenprodukt der Arbeit von CERN-Wissenschaftlern.
Das «Gottesteilchen» sorgt für Furore
Seinen bedeutendsten Erfolg feierte das CERN aber erst kürzlich: 2012 gelang der Nachweis des Higgs-Bosons, dessen Existenz knapp ein halbes Jahrhundert zuvor der Brite Peter Higgs und der Belgier François Englert vorausgesagt hatten. Sie erhielten 2013 dafür den Physik-Nobelpreis.
«Sie und ich würden ohne dieses Teilchen nicht hier sitzen, es gäbe uns gar nicht», erklärt Generaldirektor Heuer. Es sei jener Grundbaustein der Materie, der anderen Elementarteilchen überhaupt erst Masse verleiht – das «Gottesteilchen», wie es medienwirksam getauft wurde.
Auch mit 60 noch Avantgarde der Forschung
Trotz des historischen Durchbruchs: Der mehrfach modernisierte Ringbeschleuniger wird bald an Grenzen stossen. «Wir wissen nur etwas über einen kleinen Teil unseres Universums, ungefähr fünf Prozent», sagt Heuer. «Der Rest ist weitgehend rätselhaft, dunkle Materie, dunkle Energie – darüber wollen wir mehr erfahren.»
Deshalb wird bereits ein beinahe vier Mal grösser Teilchenbeschleuniger geplant, der in zehn Jahren den Betrieb aufnehmen könnte. Das CERN dürfte also auch im gehobenen Alter nicht zum «alten Eisen» gehören.