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Neue Studie Antidepressiva wirken kaum besser als Placebo

Das Wichtigste in Kürze

  • Forscher des renommierten Nordic Cochrane Centre in Kopenhagen relativieren nach Auswertung von über 500 Studien die Wirkung von Antidepressiva.
  • Demnach hätten die Medikamente zur Behandlung depressiver Patienten zwar eine Wirkung, doch sei diese nur unwesentlich höher als jene von Placebos.
  • Während erste Stimmen Konsequenzen für die Gesundheitspolitik fordern, sieht der Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich Antidepressiva weiterhin als «unverzichtbaren Baustein in der Behandlung».

Für eine Koryphäe tritt Klaus Munkholm äusserst bescheiden auf. Sein Büro im öffentlichen Spital in Kopenhagen ist nordisch schlicht gehalten; nichts Unnötiges steht herum. Und wenn er spricht, merkt man, dass der bedachte Forscher jedes Wort auf die Goldwaage legt. Der dänische Psychiater weiss, wie gross die Sprengkraft dessen ist, was er und seine Forscherkollegen des Nordic Cochrane Centre in Kopenhagen herausgefunden haben.

Hier geht es zur Studie

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Die Studie von Klaus Munkholm vom Nordic Cochrane Centre finden Sie hier .

Sie haben die Resultate ihrer viel beachteten Meta-Studie kürzlich im renommierten British Medical Journal Open publiziert. Und Mukholms Resultate haben das Potenzial, die gängige Behandlung von Depressiven komplett infrage zu stellen.

Das BAG muss die Leistungspflicht für Antidepressiva untersuchen und aus dieser Untersuchung Konsequenzen ziehen
Autor: Eva Blozik Leiterin der Abteilung Gesundheitswissenschaften der Helsana-Gruppe

Denn: Klaus Munkholm und seine Forscher-Kollegen sind nicht irgendwer. Munkholm gehört zu den weltweit renommiertesten Forschern zum Thema bipolare Störung. Er war früher Chefarzt am Psychiatriezentrum in Kopenhagen. Dort wird rund ein Drittel aller Dänen behandelt, die an einer psychischen Krankheit leiden.

Die «Fakten-Checker» der Wissenschaft

Vor drei Jahren hat sich Munkholm jedoch ganz der Forschung verschrieben – er arbeitet jetzt als Chefarzt beim Nordic Cochrane Centre. Das Zentrum, das unter anderem vom dänischen Staat unterstützt wird, ist organisatorisch dem öffentlichen Rigshospitalet-Spital in Kopenhagen angegliedert, forscht inhaltlich aber komplett unabhängig.

Die Cochrane-Forscher sind so etwas wie die «Fakten-Checker» in der Wissenschaft. Sie bewahren sich ihre Unabhängigkeit, indem sie kein Geld von Pharmakonzernen annehmen. Publizierende Forscher müssen stets sämtliche Interessenbindungen offenlegen. Und in ihrem viel beachteten wissenschaftlichen Regelwerk definieren sie weltweit anerkannte, hohe Standards, anhand derer sie – in Form von Metastudien – jeweils bestehende Studien zu ausgewählten Themen auswerten, analysieren und auf ihre Aussagekraft hin bewerten.

Grundlage sind auch bisher unveröffentlichte Studien

Im aktuellen Fall haben Munkholm und seine Forscherkollegen während Monaten Studien analysiert, die sich mit der Wirksamkeit von Antidepressiva befassen: Insgesamt 522 bereits publizierte Studien haben sie unter die Lupe genommen – klinische Studien, an denen insgesamt 116'477 depressive Versuchsteilnehmerinnen und -Teilnehmer mitgemacht haben. Die einen Teilnehmer waren mit einem Antidepressivum behandelt worden, die anderen mit einem Placebo – also einem Scheinmedikament ohne Wirkstoff.

Zudem haben Munkholm und seine Kollegen auch 19 unveröffentlichte klinische Studien der Pharmaindustrie beigezogen – also solche, welche die Pharmakonzerne nicht veröffentlicht haben wollten, aber beim Zulassungsgesuch des Medikaments den Behörden vorlegen mussten. Das Forschernetzwerk «Cochrane» hat sich den Zugang zu diesen unter Verschluss gehaltenen Studien über Jahre hinweg mühsam erkämpft – und erhält diese seither von der Europäischen Arzneimittel-Agentur EMA, die für die Beurteilung und Überwachung von Arzneimitteln zuständig ist.

Antidepressiva in neuem Licht

Nach der minutiösen Analyse der bisherigen Studie und dem Zuzug der unter Verschluss gehaltenen Studien, steht die Wirksamkeit von Antidepressiva plötzlich in einem ganz anderen Licht da: Sie wirken kaum besser als Placebo-Pillen.

Psychiatrie-Forscher Klaus Munkholm sagt: «Die Wirkung von Antidepressiva und von Placebo unterscheidet sich auf einer Skala von 52 Punkten nur um 1.97 Punkte.» Eine Verbesserung, die von einem Arzt nicht mal festgestellt werden kann.

So wird die Wirksamkeit gemessen

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Die Wirksamkeit von Antidepressiva wird auf der sogenannten «Hamilton-Skala» gemessen. Auf dieser Skala wird die Schwere einer Depression mit einem Wert zwischen 0 und 52 Punkten bestimmt. Je mehr Symptome ein Patient hat – zum Beispiel Schlaflosigkeit, suizidale Gedanken oder Arbeitsunfähigkeit – umso höher liegt der Wert auf der Hamilton-Skala – umso schwerer ist seine Depression.

Konkret: Wenn Antidepressiva die Depression beispielsweise um 11.97 Punkte auf der Hamilton-Skala senken, so bewirkt ein Placebo – ein Scheinmedikament ohne Wirkstoffe – eine Senkung der Depression um 10 Punkte.

Ein Milliardengeschäft

Klaus Munkholms Forschungsergebnisse sind äusserst brisant: Denn seit rund 50 Jahren werden Antidepressiva in grossen Stil an Patienten abgegeben. Es ist ein Milliardengeschäft. Gemäss der Weltgesundheitsorganisation WHO leiden über 300 Millionen Menschen auf der Welt an Depression – Depression ist weltweit die häufigste Ursache für Arbeitsunfähigkeit.

Für die Schweiz fehlen offizielle Statistiken weitgehend. Die grösste Schweizer Krankenversicherung Helsana hat jedoch aufgrund ihrer Patientendaten hochgerechnet, wie verbreitet die Einnahme von Antidepressiva in der Schweiz ist: 9 Prozent der Bevölkerung schlucken sie regelmässig.

«Die Kosten für Antidepressiva in der Schweiz machen im Jahr ungefähr 200 Millionen Schweizer Franken aus», sagt Eva Blozik. Die Ärztin und Privatdozentin am Institut für Hausarztmedizin an der Universität Zürich leitet bei der Helsana den Bereich Gesundheitswissenschaften. Sie sagt: «Es sind sehr viele Bezüger in der Schweiz betroffen – weit über 700’000 Personen.» Und: «Wir haben sehr viele Personen, die Antidepressiva über mehrere Jahre hinweg nehmen.»

Krankenkasse fordert Konsequenzen

Die Helsana-Ärztin hat die Meta-Studie der Cochrane-Forscher mit grossem Interesse gelesen. Für sie ist klar: «Die Resultate einer so renommierten Institution wie der Cochrane Collaboration sollten wir sehr ernst nehmen. Besonders fällt ja auf, dass die Patienten nur sehr geringfügig von den Antidepressiva profitieren können.»

Direktor der Psychiatrischen Uniklinik Zürich relativiert

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Erich Seifritz
Legende: SRF

SRF News: Welche Rolle spielen Antidepressiva in der Behandlung von Depressiven?

Erich Seifritz: Sie sind genauso wie Psychotherapie ein unverzichtbarer Baustein in der Behandlung. Gerade bei schwer depressiv Erkrankten ist eine Psychotherapie aber häufig gar nicht möglich, da man nicht an die Patienten herankommt. Da spielen Antidepressiva, häufig auch in Kombination mit anderen Medikamenten, eine oft lebensrettende Rolle. Darauf zu verzichten wäre in diesem Fall ein Kunstfehler.

Nun kommt aber die Chochrane-Metastudie zum Schluss, dass die Wirkung der Antidepressiva kaum über jene von Placebo hinausgeht. Wie erklären Sie sich das?

Das hat damit zu tun, dass Teilnehmer von Registrierungsstudien die Patienten, die zu uns in Behandlung kommen, nur zum Teil repräsentieren. Einerseits ist die Diagnose «Depression» ein sehr weit gefasster Begriff. Andererseits werden für Studien viele Depressive ausgeschlossen. Wenn sie suizidal sind, Suchtmittel konsumieren, andere Krankheitsbilder aufweisen, ausserhalb eines vordefinierten Altersbereichs liegen oder bereits früher schwerer behandelbare Depressionen gehabt haben.

Zudem erlauben die meisten Studien keine individuelle Anpassung der Behandlungsbausteine an die spezifischen Bedürfnisse eines individuellen Patienten. Auch erlauben die Studienprotokolle keine Kombinationstherapien, welche gemäss Behandlungsempfehlungen und klinischer Erfahrung oft unabdingbar sind. Erfahrungsgemäss ergeben sich in Studien sehr hohe Plazebo-Effekte, welche durch die speziellen Rahmenbedingungen der Studie bedingt und in der normalen klinischen Behandlungssituation nicht vorhanden sind.

Werden Sie Konsequenzen ziehen aus den Erkenntnissen der Studie?

Selbstverständlich beeinflusst diese Studie unsere klinische Praxis, wie das alle relevanten Studien in unserem Bereich tun. Sie bestätigt die grundsätzliche Wirkung von Antidepressiva, aber auch, wie wichtig die personalisierte Behandlung ist, und wie wichtig die diesbezügliche Forschung zur Entwicklung von noch wirksameren Behandlungen, Psychotherapie und Medikamenten ist.

Blozik fordert, dass das Bundesamt für Gesundheit über die Bücher geht. «Aus Sicht von Helsana empfiehlt es sich, dass das Bundesamt für Gesundheit die Leistungspflicht für Antidepressiva untersucht und aus dieser Untersuchung Konsequenzen zieht.» Man müsse nun genau überlegen, für welche Patienten Antidepressiva künftig noch vergütet werden sollen.

Behandlungen trotz Unkenntnis der Ursachen

Auch die Luzerner SVP-Nationalrätin und Ärztin Yvette Estermann fordert nun Konsequenzen aus den neuen Erkenntnissen aus der Metastudie: «Jetzt liegen neue Forschungsergebnisse und Erfahrungen in der Praxis vor, und deshalb bin ich überzeugt, dass der Bundesrat in diese Sache handeln muss. Der Bundesrat soll gesetzgeberisch tätig werden, dass die Abgabe von Medikamenten gegen Depressionen zurückgehen. Die Abgabe muss strenger gehalten werden. Es darf nicht sein, dass man 9 Prozent der Schweizer Bevölkerung unnötig den massiven Nebenwirkungen aussetzt, die Antidepressiva haben können.»

Antidepressiva beeinflussen die sogenannten Botenstoffe im Gehirn. Dies, obwohl bisher nicht belegt werden konnte, ob Depressive da tatsächlich ein Problem haben. Dazu Studienautor und Psychiater Klaus Munkholm: «Es gibt schlichtweg keinen Beweis dafür, dass Depressionen durch ein Ungleichgewicht von Neurotransmittern verursacht wird.»

Denn: «Es gibt weltweit keinen einzigen Test, der objektiv messen kann, ob Patienten mit Depressionen tatsächlich irgendeine Störung der Neurotransmitter haben», sagt Munkholm. «Es herrscht der weitverbreitete Glaube, dass Antidepressiva gegen Depressionen helfen. Denn das wurde uns seit Jahrzehnten eingebläut.» Mit diesem Glauben räumt Munkholms Meta-Studie nun auf.

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