SRF News: Wann haben Sie das erste Mal Stimmen gehört?
Christian Feldmann: Bevor ich begann, Stimmen zu hören, war ich ein spontaner, fröhlicher, ideenreicher Pubertierender, der überall schnell Anschluss fand. Aber ich hatte zunehmend Mühe mit meinen hohen eigenen Wünschen und Sehnsüchten, beispielsweise an Beziehungen, Freunde oder auch Materielles. Das machte mich schwermütig und nagte am Selbstvertrauen. Ich fühlte mich nicht mehr zugehörig, fühlte mich beobachtet, hatte das Gefühl, dass über mich gesprochen wird und vermehrt hatte ich auch die Empfindung, als ob sich etwas anbahnt.
Einige Wochen danach hörte ich die Stimmen zum ersten Mal: Ich erklärte mir das als telepathische Unterstützung. Die Stimmen sagten mir, ich sollte von nun an durch mir bekannte Personen auf eine wichtige Mission vorbereitet werden. Sogleich fühlte ich mich wieder wichtig. Das Wissen dieser Identitäten war so passend auf meinen Tageslauf abgestimmt, dass unmissverständlich klar war: Nur ich verstehe diese Botschaften. Nichts dabei war mir fremd.
Immer wieder wurde aus dem Radio extra für mich gesungen oder der Fernseher hielt für mich anerkennende Botschaften parat
Störten die Stimmen Sie nicht in Ihrem Alltag?
Ein halbes Jahr lang versuchte ich am Ausbildungsplatz mit den Stimmen klarzukommen. Sie hielten Ratschläge wie «Überwinde dich, versuch mit den Leuten zu sprechen» parat, um mir Möglichkeiten zu bieten, mein Selbstvertrauen wiederzufinden – das gelang mir aber nicht, und das machte mich immer trauriger.
Nur die Flucht in die Parallelwelt ermöglichte mir den emotionalen Ausgleich: Immer wieder wurde aus dem Radio extra für mich gesungen oder der Fernseher hielt für mich anerkennende Botschaften parat und es formierte sich eine Art inneres soziales Gefüge, auf welches ich zurückgreifen konnte, wenn ich niedergeschlagen war.
Die Stimmen waren für Sie also eher im positiven Sinne Begleiter als eine Last?
Ich forderte diese Stimmen-Begleiter richtiggehend an, fühlte mich speziell und mochte sie nicht aufgeben. Rückblickend waren die Stimmen eher eine wilkommene Ablenkung und ein emotioneller Ausgleich meiner Niedergeschlagenheit. Aber irgendwann konnte ich all diese Erfahrungen nicht mehr geheim halten, und es kam zu einem verbalen Ausbruch. Erst jetzt begriff mein Umfeld, was los war und ich wurde in eine Klinik eingewiesen.
Wie muss man sich diese Stimmen vorstellen: Sprechen sie Sie in Du-Form an?
Das sind für mich ganz kurze Wortmeldungen wie das Aufrufen meines Namens – aber immer mit einer Emotion oder gefühlsmässig verpackten Botschaft verknüpft. Sprich: Ich nehme die Emotion von dieser Identität, von dieser Person, die ich kenne, wahr, und dann wirkt das bei mir. Das kann sich in die Euphorie steigern, jedoch ebenso verwirren oder auch sehr negativ belastend wirken.
Ich hörte die Stimmen 10- bis 15-mal pro Tag.
Sind die Stimmen über die Jahre immer die gleichen geblieben?
Nein, sie haben sich im Laufe der Zeit verändert. Die ersten Arbeitsplatz-Stimmen verschwanden beispielsweise nach dem Wechsel des Arbeitgebers. Wenn ich neue Personen kennenlernte, die mir wichtig waren, traten sie gleich als stimmliche Erfahrung in Erscheinung. Mit 20 hörte ich so circa 20 verschiedene Stimmen, aber nie zeitgleich. Die Anwesenheit der Identitäten spürte ich immer, ich hörte sie aber nur 10- bis 15-mal pro Tag, je nach emotionaler Verfassung. Wenn es mir schlecht ging, waren sie permanent zu hören, ich forderte sie auf, mich zu begleiten.
Aber trotzdem haben diese vertrauten Begleiter Sie fast in den Tod getrieben.
Sie versprachen mir auf verführerische Art und Weise das Paradies. Mein Selbsttötungsversuch, um ins Paradies zu gelangen, endete im Spital. Ich sah dannach keinen Grund mehr, mich mit dieser Gruppe Stimmen zu beschäftigen. Zeitgleich sprach ich erstmals darüber, dass ich Stimmen hörte – aber nicht darüber, was sie sagten. Die Botschaften waren mir zu persönlich. Ausserdem sah ich durch den Rat der Stimmen immer einen Weg, mich aus eigener Kraft wieder aus dem inneren Gefängnis zu befreien.
Ich fand in einer therapeutischen geschützten Umgebung wohlwollende Menschen, die mich nicht als krank abstempelten. Dies war und ist für mich sehr wichtig! Mit meinen Möglichkeiten und Fähigkeiten konnte ich mich ohne Druck neu finden. In der Gruppe der Stimmen blieben jetzt nur noch die Förderer meiner selbstbestimmten, nachhaltigen Ziele und Wünsche.
Spielten Medikamente bei diesem neuen Kapitel gar keine Rolle?
Die Neuroleptika halfen mir nur in der sehr verwirrenden Stimmen-Hörer-Zeit. Sie halfen mir, die auf mich einprasselnden Gefühle langsamer und bewusster wahrzunehmen – wie in Watte gepackt. Für den Umgang mit den Stimmen waren die Medis jedoch extrem hinderlich. Die Botschaften und Ratschläge der Stimmen konnte ich durch die zu hohe Dosis noch weniger umsetzen. Das musste ich aber, um meine innere und äussere Unabhängigkeit wiederzufinden.
Wirkliche Hilfe fand ich schliesslich in mir selber. Dieses Vertrauen bildet die Grundlage dafür, dass ich momentan nur noch ganz vereinzelt Stimmen höre. Beim Einschlafen lasse ich mir so den Tag sozusagen durch Andere verarbeiten – cool, einmal nicht selber aktiv denken zu müssen!
Das Interview führte Helwi Braunmiller.