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Virtual Reality gegen Ängste «Dieser Mann, ist das ein Freund von dir?»

Für Angstpatienten kann eine Busfahrt zum Höllenritt werden. In den Niederlanden wird der tägliche Horror simuliert – die Psychiater erzielen verblüffende Erfolge.

Edwin Timmer sitzt im Behandlungszimmer seiner Therapeutin Elsbeth Zandee. Sie hat ihm soeben eine Virtual-Reality-Brille übergestülpt. Jetzt besprechen die beiden den virtuellen Ort, den er in der einstündigen Sitzung besuchen wird und vor dem er sich im realen Leben stark fürchtet.

Timmer hat die Wahl zwischen Supermarkt, Kneipe, Bus oder Ladenstrasse. Und er kann bestimmen, wem er in dieser künstlichen Welt begegnen möchte. Der Patient entscheidet sich für die Ladenstrasse mit einem patrouillierenden Wachmann.

«Dieser Wachmann, ist das ein Freund von dir?», will die Therapeutin von ihrem Patienten wissen. «Oh nein, ganz und gar nicht», gibt dieser zurück. Im echten Leben flössen solche Menschen dem Betroffenen grosse Angst ein. Doch hier in diesem Therapiezimmer fühlt er sich sicher, er weiss, dass alles nur gespielt ist.

Simulierte Paranoia

Die Therapeutin kann in dieser virtuellen Welt alles bis ins kleinste Detail arrangieren. Mit ein paar Mausklicks kann sie den Gesichtsausdruck des Wachmannes einstellen, seine Körpergrösse und ob er sich schnell oder langsam bewegt. Sie kann aber auch die Anzahl Passanten in der Ladenstrasse einstellen. Wobei immer gilt, dass der Patient entscheidet, wie weit er gehen will.

Timmer leidet seit seiner Pubertät an schweren paranoiden Angststörungen. Er hat deswegen grosse Mühe mit alltäglichen Dingen. In einen Bus einsteigen ist eine riesige Herausforderung, genauso wie das Einkaufen im Supermarkt. Er ist argwöhnisch, misstraut Fremden und hat ständig das Gefühl, überwacht zu werden. Und manchmal fürchtet er schlicht und einfach um sein Leben.

Angst als ständiger Begleiter

«Wenn mich jemand auf der Strasse anschaut, bekomme ich manchmal aus dem Nichts heraus das Gefühl, dass er mir etwas antun will», erzählt Ewdin Timmer. Der Reiz-Filter in seinem Kopf sei eben kaputt, fügt der Patient fachmännisch an.

Bei Edwin habe ich nach ein paar Wochen VR-Therapie festgestellt, dass ihn Alltägliches wie Einkaufen weniger Mühe kostet
Autor: Wim Veling Professer für Psychiatrie

Die zahllosen Reize, denen ein Mensch tagtäglich ausgesetzt ist, werden bei Gesunden sehr stark gefiltert, nicht jedoch bei Menschen mit schweren Angststörungen. Wenn er überreizt sei, erzählt der Niederländer, werde er schnell müde – dann würden seine Ängste noch schlimmer. Das hat zur Folge, dass der 46-Jährige IV-Patient sich kaum mehr getraut, die eigenen vier Wände zu verlassen und sich immer mehr abkapselt.

Seit Jahren schluckt er deshalb Psychopharmaka. Und immer wieder absolvierte er kognitive Gesprächstherapien. Aber die Ängste kamen stets zurück. Auch jetzt, nach der Virtual-Reality-Therapie, hat Timmer immer noch Angstmomente. Aber dank seinen Erfahrungen in der künstlichen Welt kann er besser damit umgehen.

Konfrontation mit den eigenen Ängsten

Der Kern dieser Therapie sei das Exponieren, erklärt Wim Veling, Professor für Psychiatrie an der Uni Groningen, der diese Therapie miterfunden und eine entsprechende Studie durchgeführt hat. Der Patient müsse virtuell genau die Dinge tun, vor denen er sich im echten Leben fürchtet.

Denn die Patienten könnten nicht zu Übungszwecken in den echten Supermarkt gehen. Dank der VR-Brille wird die Schwelle wesentlich tiefer um dies zu üben. Zudem sitzt der Psychiater direkt neben dem Patienten und kann wenn nötig eingreifen.

Wim Veling mit der VR-Brille
Legende: Zufrieden mit dem Pilotversuch: Der Psychiater hat mit seinen Patienten erstaunliche Erfolge erzielt. SRF/Elsbeth Gugger

Eine VR-Therapie wird zweimal wöchentlich während insgesamt acht Wochen durchgeführt. In der Studie, an der Timmer und 115 weitere Patienten teilnahmen, zeigte sich nach Abschluss, dass das starke Misstrauen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer gegenüber Mitmenschen deutlich kleiner geworden ist. Drei Monate nach der Therapie war dies immer noch so. Das gilt auch für Timmer, dem es dank der VR-Therapie auch sonst besser geht.

«Bei Edwin habe ich nach ein paar Wochen VR-Therapie festgestellt, dass ihn Alltägliches wie Einkaufen weniger Mühe kostet», erzählt der Psychiater. Und: Der Patient habe eines seiner gesteckten Ziele erreicht – nämlich vor Publikum ein selbstgemachtes Gedicht vorzutragen.

Edwin Timmer freut sich, dass ihm das geglückt ist: Es sei eine sehr schöne und auch eine gute Erfahrung gewesen an diesem Poesie-Wettbewerb teilzunehmen.

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