Auf der Liste der beliebtesten Webseiten nimmt Wikipedia den fünften Platz ein. «Jeden Monat wird unsere Seite von 1,5 Milliarden Geräten aus der ganzen Welt abgerufen», erzählt Katherine Maher, seit zwei Jahren Direktorin der Wikimedia Stiftung, die die Online Enzyklopädie betreibt.
Diese gigantische Zahl versetzt die 35-jährige immer noch in Staunen, auch wenn sie nicht genau weiss, wie viele Menschen über Computer oder Smartphone auf Wikipedia zugreifen. Weil der Schutz der Privatsphäre oberste Priorität hat, sammeln die Betreiber keinerlei Daten über ihre Leser. Bekannt ist lediglich, dass jeden Monat 15 Milliarden Wikipedia-Artikel aufgerufen werden.
Infrastruktur erstaunlich klein
Was es dazu an technischer Infrastruktur brauche, sei überraschend wenig, sagt Katherine Maher. Ihre Stiftung betreibt eigene Server an zwei Standorten, in Texas und in Virginia. Fällt ein Datencenter aus, übernimmt das andere den Betrieb. Jeder neue Artikel im Nachschlagewerk und jede Änderung wird zudem an verschiedenen Orten gesichert.
Weil Wikipedia keine Nutzerdaten sammelt, ist die Webseite für Hacker nicht besonders interessant. Der Aufwand, der für Sicherheit getrieben werden muss, hält sich deshalb in Grenzen. «Die ganze technische Einrichtung passt auf einen Lastwagen», meint Katherine Maher.
Was ebenfalls erstaunt: Die komplette deutsche Ausgabe der Enzyklopädie ohne Bilder benötigt nur um die 11 Gigabyte an Speicherplatz. Das Wissen der umfangreichsten Enzyklopädie kann man somit ständig in der Hosentasche mit sich führen auf einem Smartphone oder einem USB Stick .
Hinter der Nummer eins und zwei auf der Liste der meistbesuchten Webseiten, Google und YouTube, steckt Alphabet. Während der IT-Konzern an der Börse mit rund 770 Milliarden Dollar bewertet wird, finanziert sich die Wikimedia Stiftung ausschliesslich durch Spenden. Rund sechs Millionen Menschen aus der ganzen Welt sind bereit, jedes Jahr einen Beitrag zu leisten, im Schnitt 15 Dollar.
Die Hälfte bis zwei Drittel des Budgets fliesst in die technische Infrastruktur und die Entwicklung der Wikipedia-Software. Rund ein Viertel investiert Katherine Mahers Organisation in Anlässe für die 78'000 freiwilligen Autoren auf der ganzen Welt. 48 Millionen Artikel haben sie bereits beigesteuert und überarbeitet, 5 Millionen davon auf Englisch, die umfangreichste Sammlung aller Sprachversionen.
Know-how für die Zukunft
Wie wird Wikipedia in 20 Jahren aussehen? Katherine Maher lacht: Sie habe keine Ahnung – vielleicht so wie jetzt, vielleicht auch ganz anders. Vor 20 Jahren hat Wikipedia noch gar nicht existiert. Das Nachschlagewerk nahm erst 2001 den Betrieb auf.
Klar ist: Die Arbeit an der Enzyklopädie kommt nie zu einem Ende, Stillstand wäre der Tod. Es gibt immer Neues zu dokumentieren und Altes zu überarbeiten.
Sorge bereitet der Chefin, dass Suchmaschinen und digitale Assistenten von Google, Apple und Amazon regelmässig auf Wikipedia zugreifen und die Information den Nutzern direkt anzeigen, ohne dass diese mit der Wikipedia-Seite direkt in Berührung kommen. Die Menschen könnten so die Beziehung zu Wikipedia verlieren, befürchtet Katherine Maher. Wer wird dann in Zukunft das Lexikon aktuell halten und weiter ausbauen?
Big Data
Das Nachschlagewerk ist zwar das bekannteste Produkt der Wikimedia Stiftung doch nicht das einzige: Ein Dutzend Projekte unterstützt die Non-Profit-Organisation, darunter das Wörterbuch Wiktionary , die Mediensammlung Wikimedia Commons und Wikidata , eine streng strukturierte Datensammlung mit grossem Potenzial.
Während ein Artikel bei Wikipedia aus freiem Text und Bildern besteht, sind die Einträge bei Wikidata auf kurze, präzise Angaben beschränkt, die wieder mit anderen Einträgen verknüpft werden können. Sucht man in der Wikipedia nach «Bern» , findet man lange Artikel in verschiedenen Sprachen, die über die Geschichte, Geografie und Politik berichten.
Bei Wikidata hingegen ist es bloss ein sprachunabhängiger Eintrag , der die Stadt mit trockenen Fakten charakterisiert: Höhe über Meer, Anzahl Einwohner, Name des aktuellen Stadtpräsidenten und alle seine Vorgänger usw. Verlinkt man nun solche Einträge mit anderen Datenpunkten so sind neuartige Abfragen möglich, die bei Wikipedia undenkbar sind.
So kann man sich etwa die grössten Städte anzeigen lassen, die zurzeit von einer Frau regiert werden oder alle denkmalgeschützten Objekte im Umkreis von einem Kilometer um den aktuellen Standort. Wikidata wächst zurzeit stark, weil Institutionen wie Museen oder Universitäten Daten beisteuern.
Wissen ohne Ende
Doch vielleicht steht in Zukunft weder Datensammlung noch Enzyklopädie oder Mediensammlung im Zentrum, sondern eine Kombination aus allem.
Katherine Maher erzählt, wie sie in Bern vor dem Besuch des Einstein Hauses den Wikipedia-Artikel zum berühmten Wissenschaftler konsultierte. Sie träumt davon, dass man in Zukunft nicht bloss auf einen Artikel zu Einstein stösst, sondern auf eine Fülle an Information: Videos, mit Reden verlinkt mit Originaldokumenten oder Bildern aus allen Museen der Welt und allen Büchern, die Einstein erwähnen.
Das ist Katherine Mahers Traum: Wissen soll nicht mehr in einem Artikel mit einem Anfang und einem Ende präsentiert werden. Die Wikipedia der Zukunft gleicht viel mehr einem Eisberg, in dem man tiefer in ein Thema abtauchen oder sich seitwärts zu anderen Aspekten bewegen kann. «Es ist ein Eingang, durch den man eintritt und dann einfach immer weiter läuft» meint Katherine Maher mit glänzend Augen.