SRF News: Es ist das Jahr 2030. Mich plagen Verdauungsbeschwerden. Wie werde ich vorgehen?
Karin Frick: Schon bevor die Probleme aufgetaucht sind, wird Ihre smarte Toilette mittels Sensoren Ihren Stoffwechsel analysiert und festgestellt haben, dass Ihr Verdauungsapparat aus dem Gleichgewicht gerät. Die vernetzte Toilette wird dann praktische Ratschläge ausgeben, zum Beispiel, wie Sie Ihre Ernährung umstellen sollten. Oder sie rät Ihnen, genauere Untersuchungen vorzunehmen. Die machen Sie selbst mit Teststreifen oder anderen Systemen, um gewisse Hypothesen zu überprüfen oder bestimmte Krankheiten auszuschliessen. Dann erst kommt es möglicherweise zum Kontakt mit dem Arzt, wahrscheinlich einem Spezialisten.
Brauchen Patienten nicht weiterhin das menschliche Gegenüber? Immer mehr Menschen wenden sich ja schon jetzt von der hochtechnisierten, «seelenlosen» Medizin ab, hin zu sanfteren Methoden.
Ich glaube, diese romantische Sehnsucht wird überschätzt. Patienten werden zukünftig Technik und Medizin wollen, nicht jemanden, der ohne Instrumente arbeitet. Zum Beispiel Augenlasern: Das können schon heute Maschinen machen. Die Maschine hat da die eindeutig ruhigere Hand als der Arzt.
In Zukunft müssen Mensch und Maschine zusammenarbeiten.
Und schon heute kann kein Arzt so viele Studien lesen, wie er vielleicht müsste. Vertrauen wir in der Behandlung in 20 Jahren also lieber dem Arzt, der aus einem Bauchgefühl heraus entscheidet? Wenn eine Maschine ihm hilft, alles zu meiner Krankheit aufzubereiten, dann will ich das doch. Es kann also in Zukunft nur Mensch und Maschine heissen, sie müssen zusammenarbeiten. Dass ich als Patient auch Zuwendung brauche, ist unbestritten, aber die doch vom Spitzenmediziner, der die aktuellsten Systeme nutzen kann.
Schon heute ist mit Smartphones so Vieles möglich. Und doch gehen wir brav in die Praxis zum Arzt, medizinische Apps oder Telemedizin sind immer noch Zukunftsmusik. Warum?
Der Gesundheitsbereich ist ein Bereich, der extrem hoch reguliert ist, aus gutem Grund. Eine Suchmaschine kann man leicht entwickeln und einfach testen. Wenn sie nicht funktioniert, schaltet man sie wieder ab. Wenn Social-Network-Angebote nicht funktionieren, lässt man sie einfach wieder sein. In der Gesundheit, wo es ums Leben geht, ist das viel schwieriger. Das kennt man von Therapien: Bis sie zugelassen sind, müssen sie sich in strengen Prozessen bewährt haben. Dadurch brauchen Neuentwicklungen viel länger.
Die heutigen Lifestyle-Apps sind erste Versionen zum nächsten Schritt, dem gesundheitlichen Monitoring des Patienten.
Wir sind aber gar nicht so weit davon entfernt. Es gibt bereits viele Apps oder Produkte, die mich überwachen, Trackinguhren beispielsweise oder Pulsmesser. Aber wenn es sich um einen Herzschrittmacher oder ein Implantat im Gehirn handelt, sind wir in einer ganz anderen Situation. Die Alltags-Entwicklungen zeigen aber neue Wege auf. Sie sind erste Versionen zum nächsten Schritt, dem Monitoring, also der gesundheitlichen Kontrolle des Patienten.
Ich muss dann in der Zukunft nicht mehr zum Blutdruckmessen in die Praxis, sondern der Arzt bekommt die Ergebnisse einfach übermittelt. Senioren könnten so leichter weiter zuhause leben, weil ihre medizinische Überwachung anders organisierbar ist. Jetzt sind die Geräte aber noch nicht sicher genug.
Schon jetzt fühlen sich Patienten gerade bei schweren Erkrankungen bei Entscheidungen von der Informationsflut hoffnungslos überfordert. Wie will man da nicht verlorengehen im Gesundheitssystem der Zukunft?
Mehr Möglichkeiten bedeuten auch mehr Ungewissheit. Es wird weiterhin nicht die eine beste Lösung, die eine Pille bei komplexen Erkrankungen geben. Dadurch wird sich die Orientierungslosigkeit der Patienten verschärfen. Also wird man sich jemanden suchen, der bei der Entscheidung hilft. Das kann auch ein System sein, das die Dossiers einer Million Krebspatienten kennt und diese auf Ähnlichkeiten zum eigenen Fall abscannt. Die künstliche Intelligenz, dieses datenbasierte Empfehlungssystem, findet bestimmte Muster. All das ist gebündelt in unserem Smartphone, vernetzt mit den diversen Sensoren, die uns überwachen.
In Zukunft wird sich das Gewicht zunehmend von der Diagnose zur Prognose verschieben.
In der Medizin der Zukunft kommt es dank diverser Messsysteme im Idealfall ja gar nicht mehr zu fortgeschrittenen Krebsleiden.
In Zukunft wird sich das Gewicht zunehmend von der Diagnose zur Prognose verschieben. Das wird Vieles verändern. Wir gehen nicht mehr zum Arzt, wenn schon etwas weh tut, sondern schon vorher. Auch das gibt es bereits jetzt, Beispiel Angelina Jolie. Sie kannte ihr genetisches Krebsrisiko und liess sich präventiv behandeln, bevor sie erkrankt ist.
Neben den besseren Diagnosemöglichkeiten: Was glauben Sie wird eine besonders wichtige Entwicklung sein?
Das Schwarmlernen ist ein ganz wichtiger Punkt. Hier kann die Medizin beispielsweise von Tesla profitieren. Es wurde ein Flotten-Lernsystem entwickelt, in dem Autos Informationen zu gefahrenen Strecken teilen. Diese werden zentral gebündelt und allen zur Verfügung gestellt, so dass Autos immer mehr Strecken kennen und autonom fahren können. Für die Medizin heisst das, wenn sehr viele Menschen beispielsweise Sensoren auf der Haut tragen, können wir sehr schnell sehr viel über die Menschen des Kollektivs lernen. Systeme können sich so unglaublich schnell weiterentwickeln. Das schafft ganz neue Möglichkeiten, an die man jetzt noch gar nicht denkt.
Das Gespräch führte Helwi Braunmiller