Die Sozialhilfe im Kanton Bern wird nicht gekürzt. 52.6 Prozent der Stimmbevölkerung sprachen sich an der Urne gegen die Pläne des Parlaments und der Regierung aus. Dass die Vorlage eher knapp entschieden wird, war im Vorfeld zu erwarten. Dennoch erstaunt es, dass die Sozialhilfekürzungen im bürgerlichen Kanton Bern abgelehnt wurden. Weshalb? Einschätzungen von Politologin Michelle Beyeler.
SRF News: Michelle Beyeler, was ist aus ihrer Sicht der Hauptgrund für die Kürzungen?
Michelle Beyeler: Es war eine sehr intensive Kampagne. Betroffene, Parteien, aber auch viele Fachverbände haben sich engagiert. Es wurde stark mit Informationen gearbeitet, zum Teil wurden sogar Studien in Auftrag gegeben.
Ich habe das Gefühl, die Bevölkerung im Kanton Bern weiss nun viel mehr über die Sozialhilfe.
Das hat funktioniert. Ich habe das Gefühl, die Bevölkerung im Kanton Bern weiss nun viel mehr über die Sozialhilfe als vorher.
Bei Abstimmungen im Kanton Bern zeigt sich oft ein Stadt-Land-Graben. Bei dieser Abstimmung war dieser Graben jedoch nicht so tief. Weshalb?
Unter den Gemeinden, welche die Kürzungen abgelehnt haben, sind viele grössere Gemeinden – überall verteilt im ganzen Kanton. Das heisst, es sind vor allem Gemeinden, die stärker betroffen sind. Dort gibt es auch professionellere Dienste, die sich gegen die Kürzungen in der Sozialhilfe engagiert haben. Zum Beispiel Burgdorf hat sich mit 58 Prozent Nein-Stimmen klar gegen die Vorlage ausgesprochen.
Das Thema Sozialhilfe funktioniert doch eigentlich nach einem typischen Rechts-Links-Schema. Das Resultat – 52.6 Prozent Nein-Stimmen – zeichnet aber ein anderes Bild. Wie erklären Sie sich das?
Ich würde sagen, das war ein geschickter Schachzug der Gegner des Gesetzes. Sie ergriffen nicht nur das Referendum, sondern lancierten auch einen Volksvorschlag.
Die Gegner liessen drei Optionen offen – das war ein geschickter Schachzug.
Damit wurden drei Optionen offen gelassen: Man konnte eine rechte Position für Kürzungen, eine Mitte-Position für den Status Quo oder eine linke Position für den Ausbau einnehmen. Das heisst, bürgerliche Stimmbürgerinnen und Stimmbürger konnten – ohne das Gesicht zu verlieren – gegen die Kürzungen stimmen.
Das Gespräch führte Christine Widmer.