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Die Schweiz auf Seiten der Völkermörder von Ruanda?
Aus International vom 03.12.2022. Bild: SRF Anna Lemmenmeier
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Fall Kabuga Die unrühmliche Rolle der Schweiz im Völkermord von Ruanda

Félicien Kabuga war einer der meistgesuchten Verbrecher der Welt. Er gilt als Financier des Völkermords in Ruanda. 26 Jahre war Kabuga auf der Flucht. Ein Grund dafür ist die Schweiz. Sie hätte ihn 1994 festnehmen können. Warum liess man den mutmasslichen Völkermörder damals laufen?

Als Aline merkt, dass sie sich im gleichen Asylzentrum in Genf befindet wie der Mann, der für die Massaker an Hunderttausenden ihrer Landsleute mitverantwortlich ist, erfasst sie Panik: «Das war ein Riesenschock. Wie wenn man plötzlich vor Hitler stehen würde.»

Etwa 30 alte Fotos von im Genozid Verstorbenen auf schwarzem Hintergrund.
Legende: Während des Völkermords in Ruanda kamen rund 800'000 Menschen ums Leben. Fotos der Opfer in der Genozidgedenkstätte in der ruandischen Hauptstadt Kigali. SRF/Anna Lemmenmeier

Im August 1994 ist die damals 19-jährige Aline, die ihren richtigen Namen nicht nennen will, gerade in der Schweiz angekommen. Aline ist Tutsi und hat darum Schutz gesucht in der Schweiz, um nicht von Hutu-Extremisten wie Félicien Kabuga umgebracht zu werden. Innerhalb von 100 Tagen wurden in Ruanda damals rund 800'000 Menschen niedergemetzelt.

Auch heute, 28 Jahre später, ist für Aline klar: Im Fall Félicien Kabuga hat sich die Schweiz der Mittäterschaft schuldig gemacht. Sie hat dazu beigetragen, dass einer der Hauptdrahtzieher des Völkermords in Ruanda von 1994 sich mehr als ein Vierteljahrhundert lang der Justiz entziehen konnte.

Der «Financier des Genozids»

Während Jahren war Félicien Kabuga einer der meistgesuchten Verbrecher der Welt, Kopfgeld fünf Millionen US-Dollar. Der damals wohl reichste Mann Ruandas gilt als «Financier des Genozids». Félicien Kabuga hat die Radiostation Radio-Télévision Libre des Mille Collines (RTLM) mitgegründet, mitfinanziert und war deren Präsident.

Man sieht eine Liste, in der ersten Spalte die Namen, in der zweiten Spalte die Investitionen. Kabuga steht auf Platz 3.
Legende: Félicien Kabuga ist in der Genozidgedenkstätte in Kigali, der Hauptstadt Ruandas, aufgelistet als einer der Hauptfinanzierer des Hassradios RTLM. SRF/Anna Lemmenmeier

RTLM hat in ganz Ruanda Völkermord-Propaganda verbreitet. Ausserdem soll der Geschäftsmann Tausende Kalaschnikows und Macheten importiert und verteilt haben. Seit Ende September steht Félicien Kabuga deswegen vor dem Nachfolge-Gericht des Ruandatribunals.

Wie konnte Kabuga in die Schweiz einreisen?

Félicien Kabuga verlässt Ruanda 1994 in Richtung Schweiz; zu diesem Zeitpunkt sind rund 800'000 Tutsis und gemässigte Hutus tot, brutal ermordet.

Die Weltöffentlichkeit ist entsetzt über die Gräueltaten. Die Schweiz aber stellt Kabuga ein Visum aus und lässt den mutmasslichen Völkermörder einreisen.

Die Front der Zeitung Kangura: Der Titel ist weiss auf grünem Hintergrund, die Texte in Fremdsprache geschrieben.
Legende: Félicien Kabuga hat auch die extremistische Hutu-Zeitung Kangura mitfinanziert. Anna Lemmenmeier

Urs Blösch, der damalige Leiter des Ruanda-Programms der Direktion für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe, der heutigen DEZA, entdeckt den Namen Kabuga im Juni 1994 auf der Visumsliste der Schweiz: «Ich war natürlich entsetzt und sagte den Leuten: «Wisst ihr eigentlich, wer dieser Mann ist?» Aber die anderen wussten nicht, wer er war.

Auch, wenn man das zu diesem Zeitpunkt hätte wissen können, so Blösch: «Der Mann war absolut bekannt.» Nach Blöschs Intervention setzt das Departement für auswärtige Angelegenheiten, das EDA, Kabuga auf eine Liste von in der Schweiz «unerwünschten Personen».

Dennoch können Félicien Kabuga und seine Familie ungestört in die Schweiz einreisen – aufgrund undurchsichtiger Entscheidungen in der Bundesverwaltung.

Undurchsichtige Nähe: die Affäre Hunziker

Im Nachhinein stellt sich heraus: Der damalige Chef des Bundesamtes für Ausländerfragen BFA, der das Visum eigenhändig erteilt, ist ein Bekannter des Schwiegersohns von Félicien Kabuga. Kabugas Schwiegersohn, Fabien Singaye, ist damals Diplomat in der Schweiz und hat den Chef des BFA, Alexandre Hunziker, mehrfach zum Essen getroffen.

Alexandre Hunziker in Nahaufnahme
Legende: BFA-Chef Alexandre Hunziker hatte Kabugas Schwiegersohn, Fabien Sigaye, mehrfach zum Essen getroffen. (Archivbild von 1992) Keystone/STR

Auch wird später bekannt, dass das BFA vor der Visumsausstellung keinerlei Abklärungen getroffen und sich nur die Vermögenssituation der Familie Kabuga angeschaut hat. Beim reichsten Mann Ruandas kein Hindernis für ein Visum. Und klar wird: BFA-Chef Hunziker gibt die Liste der in der Schweiz unerwünschten Personen des EDA, auf der Félicien Kabuga steht, weder an seine Mitarbeitenden noch an die Grenzpolizei weiter.

Diese Visumserteilung wird im Bundesamt für Justiz später aufgearbeitet. Es seien «administrativen Fehler» begangen worden, so das Fazit.

Dennoch hat die Affäre Kabuga Konsequenzen: Der Chef des Bundesamtes für Ausländerfragen geht in der Folge, offiziell aus gesundheitlichen Gründen, mit 59 Jahren in den Ruhestand.

Die Administrativuntersuchung zur Visumserteilung von Kabuga wird nie veröffentlicht. Bis heute ist sie unter Verschluss.

Unrühmliche Rolle der Schweiz

Nach mehrwöchigem Aufenthalt in der Schweiz stellt der mutmassliche Völkermörder Félicien Kabuga ein Asylgesuch. Nun bewegen sich auch die Beamten in Bundesbern. Und plötzlich kann es dem dafür zuständigen Justizdepartement gar nicht schnell genug gehen. Man will die Familie loswerden.

Bild zeigt die Front einer kenianischen Zeitung, worauf ein Foto von Kabuga zu sehen ist.
Legende: Ein Blick auf eine alte kenianische Zeitung, die über den ruandischen Völkermörder Felicien Kabuga berichtete. (Bild vom 27. September 2022) IMAGO/James Wakibia

Auch, wenn bekannt ist, dass Kabuga eine massgebliche Rolle im Völkermord gespielt haben dürfte, eröffnet die Schweiz lieber kein juristisches Verfahren. Eine Inhaftierung sei mit der vorhandenen Information über Kabuga unter der rechtlichen Grundlage in der Schweiz nicht möglich, so die Begründung.

Die dafür zuständige Militärjustiz wird nicht einmal über den Fall Kabuga informiert. Das geschieht erst einen Tag, bevor Justizminister Arnold Koller dafür sorgt, dass die ganze Familie Kabuga ausser Landes geschafft wird.

Schweiz bezahlt Flugtickets

Und dafür sind keine Kosten zu hoch. Weil Kabuga sich weigert, bezahlt die Schweiz der ganzen Familie die Flugtickets nach Kinshasa, der Hauptstadt Kongos. Steuergelder im Wert von rund 21'000 Franken.

Bevor der damals wohl reichste Mann Ruandas in Genf ins Flugzeug steigt, lässt man ihn aber noch kurz eine Bankfiliale aufsuchen. Laut einem Bericht der Weltwoche hat Kabuga damals Banktransaktionen im Umfang von fünf Millionen Franken vorgenommen.

Dass die Schweiz unter der gegebenen Informations- und Rechtslage Kabuga nicht hätte verhaften können, wurde damals und wird heute von diversen Juristinnen und Juristen bestritten. Laut der Historikerin Thanushiyah Korn von der Universität Basel hatte die schnelle Ausweisung von Kabuga vor allem einen Grund: «Kabuga in der Schweiz vor Gericht zu stellen, hätte viel Aufmerksamkeit erregt. Es hätte die Behörden unter Druck gesetzt, die Rolle der Schweiz in diesem Konflikt aufzuarbeiten und sich sehr unangenehmen Fragen zu stellen.»

Korn: «Schweiz hat im Fall Kabuga überstürzt reagiert»

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Legende: Die Historikerin Thanushiyah Korn von der Universität Basel forscht zum Völkermord in Ruanda. Anna Lemmenmeier

Die Historikerin Thanushiyah Korn von der Universität Basel forscht zu den Beziehungen der Schweiz zu Ruanda. SRF News hat sie interviewt.

SRF News: Die Schweiz hatte mit Ruanda bis zum Genozid enge Beziehungen. Worin bestanden diese?

Korn: Bereits seit 1966 war Ruanda ein Schwerpunktland für die Schweizer Entwicklungshilfe. Ruanda wurde sogar das «Lieblingskind» der Schweiz genannt. Einerseits hat die Schweiz Hunderte Millionen von Franken in Ruanda investiert, in Entwicklungshilfeprojekte. Viele Schweizerinnen und Schweizer waren vor Ort. Andererseits hat auch die Schweiz Präsidentschaftsberater gestellt. Das sind Beamte, die von der Schweiz angestellt waren und die den ruandischen Präsidenten beraten haben.

Nach dem Völkermord wurde der Schweiz auch vorgeworfen, zu lange die Regierung in Ruanda unterstützt zu haben. Warum?

Weil die Schweiz im Rahmen dieser Entwicklungszusammenarbeit sehr lange mit der Regierung von Juvénal Habyarimana, also einem Hutu-nationalistischen Regime, kooperiert hat und sogar bis 1993 einen Präsidentschaftsberater gestellt hat.

Einige Ruanderinnen und Ruander werfen der Schweiz heute vor, die Schweiz habe den Hutu-Extremisten Félicien Kabuga 1994 ein- und dann später ausreisen lassen, eben weil die Schweiz so enge Beziehungen zum Hutu-Regime hatte. Ihrer Meinung nach: Haben sie recht?

Was der genaue Grund dafür war, weshalb die Schweiz Kabuga einreisen liess, lässt sich eigentlich erst beantworten, wenn der Untersuchungsbericht zur Visumserteilung im Fall Kabuga veröffentlicht wird. Zur Ausreise kann man auf jeden Fall sagen, dass die Schweiz überstürzt reagiert hat im Fall Kabuga, dass sie relativ schnell den Ausschaffungsentscheid getroffen und ihn auch vollzogen hat, sogar auf eigene Staatskosten. Das alles erweckt den Anschein, dass man den Fall möglichst schnell loswerden und sich nicht intensiv damit auseinandersetzen wollte.

Das Gespräch führte Anna Lemmenmeier.

Darunter die Grundsatzfrage: War die Schweiz zu lange zu nahe am extremistischen Hutu-Regime (siehe Kasten)? Korn forscht zum Fall Kabuga und wartet derzeit darauf, dass ihr das Bundesarchiv Aktenzugang gewährt. Bis dahin bleiben viele Fragen offen über die unrühmliche Rolle der Schweiz im Fall Kabuga.

International, 03.12.2022, 09.08 Uhr

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