Freitagabend, 20 Uhr, bei der Genfer Polizei. Eine Polizistin sichtet Fotos, führt Telefonate. Ihr Auftrag: verschwundene Kinder finden. «Momentan suchen wir fünf Buben», sagt sie. «Es ist aber noch früh. Normalerweise geht es erst nach 23 Uhr los.» Die meisten weggelaufenen Minderjährigen werden innerhalb von 48 Stunden gefunden. Manchmal vergehen aber auch Wochen.
Die Eltern sollen sich Sorgen machen
Najeli lief mit 14 Jahren weg. Nach einer Diskussion mit ihren Eltern über Schulnoten. An einer roten Ampel riss das Mädchen die Autotüre auf und rannte davon. «Ich wollte, dass sich meine Eltern Sorgen um mich machen, damit wir aufhören, über Kleinigkeiten wie die Schule zu streiten», sagt die mittlerweile erwachsene Frau. Nach ein paar Tagen kehrte sie von sich aus nach Hause zurück.
Vor allem Heime sind betroffen
Ein Konflikt mit den Eltern ist einer der Gründe, warum Jugendliche von Zuhause ausreissen. Weitaus am meisten Fälle weggelaufener Minderjähriger betreffen allerdings Heime. Kinder, teilweise jünger als 10 Jahre, die ihre Eltern besuchen wollen oder Teenager, die mehr Freiheiten suchen. «Ich lief ein paar Mal weg, weil ich vor der Realität fliehen wollte», sagt etwa Diana, die mit 9 Jahren zum ersten Mal aus dem Heim verschwand und als 15-Jährige einen Monat auf der Strasse lebte.
Ich habe viele Dinge gesehen, die ich in dem Alter nicht hätte sehen sollen.
Dieser Monat sei ihr vorgekommen wie ein Jahr. Oft habe sie die Nacht schlaflos verbracht, sei durch die ganze Stadt Genf gelaufen. «Ich weiss, wie die Strassen morgens um 6 Uhr aussehen. Das macht Angst. Ich habe viele Sachen gesehen, die ich in diesem Alter nicht hätte sehen sollen.» Unter anderem eine Vergewaltigung. «Das hätte auch ich sein können. Das beschäftigt mich bis heute.»
Offizielle Statistiken fehlen
In der Schweiz sind vermisste Kinder, dazu gehören auch weggelaufene Kinder, Sache der Kantone. Auf Bundesebene gibt es keine Zahlen. Ein Umstand, den die Stiftung «Missing Children Switzerland» kritisiert. «Ohne Daten kann man nicht politisch über das Thema reden», sagt die Gründerin Irina Lucidi.
Die Stiftung hat sich zum Ziel gesetzt, das Thema ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Sie trägt entsprechende Zahlen aus anderen Ländern zusammen und veröffentlicht eine Schätzung für die Schweiz.
Alkohol, Drogen, Party
Auch Fiona ist ein ehemaliges Ausreisserkind. Sie kam als 12-Jährige in ein Heim, lief regelmässig mehrmals pro Woche weg. Als 16-Jährige probiert sie Ecstasy, Kokain, LSD. «Als ich damit anfing, wusste ich, dass ich davon nicht so leicht wieder wegkomme.» Die Polizei suchte mehrere Wochen nach ihr.
Das Weglaufen sei ein Hilferuf gewesen, erzählt Fiona später. «Um zu sagen ‹seht ihr nicht, dass ich leide?›» Sie sei damals nicht verstanden worden. Aber heute wisse sie, dass sie sich mit dem Weglaufen auch selbst verletzt habe. «Ich musste den Tiefpunkt erreichen, um dann höher hinaufzusteigen.»
Alkohol, Drogen, Abrutschen in die Kriminalität, sexueller Missbrauch: auf der Strasse sind die Teenager echten Risiken ausgesetzt. Sobald das Weglaufen zur Gewohnheit wird, gehen sie kaum mehr in die Schule, stehen als Erwachsene ohne Ausbildung da.
Die meisten Geschichten gehen allerdings glimpflich aus. Weil die Kinder und Jugendlichen selber nach Hause zurückkehren, oder die Polizei sie findet.