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Nora Zukker
SRF 3
abspielen. Laufzeit 8 Minuten 26 Sekunden.
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Ein Mann steht auf und geht: Peter Stamms neuer Roman

Thomas lässt seine Frau und die beiden Kinder zurück. Ohne Grund, ohne Erklärung. Peter Stamm beschreibt in «Weit über das Land» tief berührend, was das Verschwinden mit den Menschen macht. Seine Sprache auf das Wesentliche reduziert mit einer Kraft, die in die Knochen geht.

Ein Mann steht auf und geht. Einen Augenblick zögert Thomas, dann verlässt er das Haus, seine Frau und seine Kinder. Mit einem erstaunten Lächeln geht er einfach weiter und verschwindet. Astrid, seine Frau, fragt sich zunächst, wohin er gegangen ist, dann, wann er wiederkommt, schliesslich, ob er noch lebt.

Die Frage nach dem eigenen Leben

Jeder kennt ihn: den Wunsch zu fliehen, den Gedanken, das alte Leben abzulegen, ein anderer sein zu können, vielleicht man selbst. Peter Stamm ist ein Meister im Erzählen jener Träume, die zugleich locken und erschrecken, die zugleich die schönste Möglichkeit und den furchtbarsten Verlust bedeuten. «Weit über das Land» ist ein Roman, der die alltäglichste aller Fragen stellt: die nach dem eigenen Leben.

Es ist ein Ur-Topos, dass einer einfach geht. Etwas flappsig formuliert kennen wir es alle: «Ich geh mal kurz Zigaretten holen!» und kommt nie wieder zurück. Peter Stamm wäre aber nicht Peter Stamm, wenn er seine Figuren und deren Innenleben nicht derart feingliedrig zeichnet, dass wir nicht anders können, als Mitgefühl zu empfinden. Auch wenn wir näher an den Gefühlen von Astrid sind, der Frau die zurückbleibt, versuchen wir nach Gründen für Thomas Verschwinden zu suchen, aber müssen am Ende damit zurecht kommen, dass wir keine Erklärungen bekommen.

«Schuld ist kein spannendes Thema»

Ich habe Peter Stamm in Winterthur besucht und ihm gesagt, dass ich während des Lesens immer wieder wütend wurde auf seine Figur Thomas. Und mir immer wieder die Frage stellte, ob sich Thomas überhaupt im Klaren darüber sei, was er seiner Frau und den Kindern antue und ob man mit einer solchen Schuld leben kann. Ganz abgesehen davon, dass es nicht so scheint, als wäre das Verschwinden für Thomas ein Befreiungsschlag und würde ihn glücklicher machen. Peter Stamm sagte, dass ihn das Thema der Schuld nicht interessiere. Erst müsse man versuchen, einen Menschen zu verstehen, darüber urteilen kann dann jeder für sich. Verurteilen sei immer einfacher, als zu verzeihen.

Das raffiniert Verstörende

Ich halte «Weit über das Land» für das anspruchsvollste Buch von Peter Stamm wegen der Erzählperspektive. Peter Stamm erzählt aus Astrids und aus Thomas Perspektive und das führt dazu, dass ich als Leserin nie ganz sicher bin, was ist Realität und was in den Köpfen der Figuren. Aber auch da muss man sagen, das ist doch nichts als konsequent, wenn der Roman das Thema des Verschwindes behandelt, wo man ja auch nicht wirklich versteht, was gerade passiert. Besonders deutlich wird die Irritation im zweiten Teil des Buches. Thomas stürzt in eine Spalte - und in der Fortsetzung der beiden Erzählspuren, die von Beginn an gelegt sind, lebt er in der einen Version weiter, in der anderen ist er jedoch klar tot.

Leseprobe

Tagsüber bemerkte man die Büsche kaum, die das Grundstück von jenen der Nachbarn trennten, sie gingen unter im allgemeinen Grün, aber wenn die Sonne sank und die Schatten länger wurden, war es, als wüchsen sie zu einer Mauer, die immer unüberwindbarer wurde, bis schließlich das letzte Licht aus dem Garten verschwunden war und die ganze quadratische Rasenfläche im Schatten lag, ein dunkles Verlies, aus dem es kein Entkommen mehr gab. Dann wurde es, jetzt, Mitte August, schnell kühl, die Kühle und die Feuchtigkeit schienen aus dem Boden zu dringen, in den sie sich während der Sonnenstunden zurückgezogen hatten, ohne jemals ganz daraus zu verschwinden.

Thomas und Astrid hatten die Kinder ins Bett gebracht, sich mit einem Glas Wein auf die Holzbank vor dem Haus gesetzt und die Sonntagszeitung ge-teilt. Nach einer Weile war durch das offene Fenster Konrads weinerliche Stimme zu hören gewesen und Astrid hatte ihren Teil der Zeitung mit einem Seufzer auf die Bank gelegt, hatte ihr Weinglas geleert und war wortlos hineingegangen und nicht wieder herausgekommen. Thomas hörte ein beruhigendes Murmeln und sah kurze Zeit später, wie das Licht im Wohnzimmer anging. Dann wurde das Fenster geschlossen, ein entschiedenes Zuklappen, das den Tag beschloss, das Wochenende, die Ferien. Das Licht ging wieder aus und Thomas stellte sich vor, wie Astrid sich im Flur auf den Boden kniete und den großen Koffer auspackte, den sie nach ihrer Rückkehr am späten Nachmittag dort abgestellt hatten. Es musste auch hier heiß gewesen sein während ihrer Abwesenheit, im Haus war es warm, die Luft war abgestanden und dicht, als herrsche im Inneren ein erhöhter Druck. Thomas blätterte die Post durch, die die Nachbarn auf den Tisch im Wohnzimmer gelegt hatten. Astrid stand dicht hinter ihm, ohne sie zu sehen, spürte er ihre Präsenz, ihre Aufmerksamkeit. Nichts Wichtiges, sagte er, und setzte sich an den Tisch. Astrid öffnete die Fenster und sagte, während sie hinausging, sie werde das Abendessen machen. Sie hatten in einem Tankstellenshop ein paar Sachen gekauft, Brot, Milch und Käse und einen Beutel Mischsalat. Die Kinder waren in den oberen Stock verschwunden, Thomas hörte sie über irgendetwas streiten. Als er und Astrid sie nach dem Abendessen ins Bett gebracht hatten, war Konrad beim Zähneputzen fast eingeschlafen und Ella hatte nicht einmal gefragt, ob sie noch lesen dürfe.

Thomas stellte sich vor, wie Astrid zwei Stapel machte mit der sauberen und der schmutzigen Wäsche. Die schmutzige trug sie in die Waschküche im Keller, die saubere verstaute sie im Kleiderschrank im Elternschlafzimmer, jene der Kinder legte sie ordentlich zusammengefaltet auf die Treppe, um sie morgen hochzutragen. Am Fuß der Treppe blieb sie einen Moment lang stehen und hörte von oben leise Geräusche, die Kinder drehten sich in ihren frisch bezogenen Betten hin und her, in Gedanken oder in Träumen noch am Strand oder schon wieder in der Schule.

Das Licht im Schlafzimmer von Astrid und Thomas ging an, durch die Fensterläden wurde ein Streifenmuster auf den Rasen geworfen, der in der anbrechenden Dunkelheit schon alle Farbe verloren hatte. Astrid ging ins Bad, dann noch einmal in den Flur, um den Waschbeutel aus dem Koffer zu holen. Sie betrachtete sich im Spiegel mit jenem ausdruckslosen Blick, mit dem sie auch Thomas manchmal ansah. Wenn er sie dann früher gefragt hatte, woran sie denke, hatte sie jedes Mal gesagt, an nichts, und über die Jahre hatte er angefangen, ihr zu glauben, und sie nicht mehr nach ihren Gedanken gefragt.

Thomas bündelte die Zeitung und legte sie auf die Bank. Er nahm sein Glas in die Hand, um es zu leeren, zögerte, schwenkte den Wein hin und her, dann stellte er das Glas, ohne getrunken zu haben, neben Astrids leeres. Es war weniger ein Gedanke als ein Bild: die verlassene Bank im Morgenlicht, darauf die Zeitung, das Papier vom Tau gewellt, und die zwei Gläser, im halbvollen einige ertrunkene Fruchtfliegen. Die Sonne schien durch die Gläser und projizierte einen roten Fleck auf das hellgrau gebleichte Holz. Die Kinder kamen aus dem Haus, reihten sich ein in die verstreute Kolonne anderer Kinder auf dem Weg zum Kindergarten, zur Schule. Kurze Zeit darauf ging Thomas zur Arbeit. Er grüßte die alte Frau aus der Nachbarschaft, deren Namen er einmal gekannt und wieder vergessen hatte. Er sah sie fast jeden Morgen mit ihrem Hund, trotz ihres Alters hatte sie einen forschen Schritt und eine laute, sichere Stimme, mit der sie ihn zurückgrüßte, als sei alles in Ordnung, als würde alles immer so weitergehen. Wenn er am Mittag nach Hause kommen würde, wären die Zeitung und die Weingläser verschwunden.

Thomas stand auf und ging auf dem schmalen Kiesweg am Haus entlang. An der Ecke angelangt, zögerte er einen Augenblick, dann bog er mit einem erstaunten Lächeln, das er mehr wahrnahm als empfand, zum Gartentor ab. Er hob das Tor beim Öffnen etwas an, damit es nicht quietschte, wie er es schon als Jugendlicher getan hatte, wenn er spät von einem Fest heimgekommen war und die Eltern nicht hatte wecken wollen. Obwohl er vollkommen nüchtern war, kam es ihm vor, als bewege er sich wie ein Betrunkener, langsam und den Untergrund vor jedem Schritt prüfend. Er ging die Straße entlang, vorbei an den Häusern der Nachbarn, die ihm mit zuneh¬mender Entfernung immer weniger vertraut waren. In manchen Fenstern war Licht, es war noch nicht zehn, aber niemand war mehr in den Gärten oder auf der Straße. Vor ihm wuchs der Schatten, den die letzte Straßenlampe ihm nachwarf, verging im Licht der nächsten, die hinter ihm einen neuen Schatten warf, der kürzer wurde, ihn überholte und ihm wachsend vorauseilte, eine gespenstische Stafette körperloser Wesen, die ihn begleitete, hinaus aus dem Quartier, über die Umgehungsstraße und in die Gewerbezone, die sich weit in der Ebene vor dem Dorf erstreckte.

Buchpremiere: Mittwoch 2. März im Literaturhaus Zürich.

Peter Stamm
Weit über das Land
Fischer Verlag, 224 Seiten
ISBN: 978-3-10-002227-1

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