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Nora Zukker
SRF 3
abspielen. Laufzeit 10 Minuten.
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In den Gangs von Neukölln

Niemand muss kriminell werden, nur weil er ein Flüchtlingskind ist. Die Schuld an seinen Straftaten trägt Yehya allein. In der Schule gilt er als hochbegabt. Studieren darf er nicht. Yehya wird lediglich geduldet. Die Wut ist sein Antrieb und so wird er zum jüngsten Intensivstraftäter Berlins.

Die Wut ist Yehyas Sucht. Die Kriminalität seine Droge. Was er braucht, ist Entzug. Aber in den Gangs von Neukölln sind alle auf dieser Droge. Mit dreiundzwanzig hat Yehya E. eine eindrucksvolle Karriere hinter sich: Sohn palästinensischer Flüchtlinge aus dem Libanon, die erste Straftat mit sieben, Einser-Schüler und Tyrann an der Rütli-Schule, mit 15 Boss von der Sonnenallee. Drei Jahre Gefängnis, dann Vorzeige-Aussteiger aus der kriminellen Szene, Streitschlichter in Neukölln, Liebling der Politiker. Er scheint es geschafft zu haben. Plötzlich der Rückschlag. Es ist eine höchst widersprüchliche Geschichte: Yehya E., der Sohn palästinensischer Flüchtlinge in Berlin-Neukölln, ist intelligent, ehrgeizig – und schon in jungen Jahren so genannter "Intensivstraftäter".

Die Sonnenallee ist eine ziemlich lange Strasse. Im Sommer riecht sie nach dem süssen Rauch der Wasserpfeifen, im Winter nur nach Abgasen, und die Altbauten sind noch ein bisschen grauer als sonst in Berlin. Sie ist eine der Hauptadern des Stadtteils Neukölln, den man seit einigen Jahren selbst in New York kennt. Wegen der vielen Geschichten. Die neueste erzählt von einem zweiten Brooklyn, von Cafés und Galerien, die nahezu täglich eröffnen, weswegen die neue urbane Mittelklasse aus der ganzen Welt herzieht und hier auf weissen Möbeln den Tag verlebt.

Eine andere wird öfter erzählt: von Neukölln, dem angeblich gefährlichsten Viertel Deutschlands. Als der Journalist Christian Stahl 2005 widerwillig in die Sonnenallee zog, gab es dort noch Läden wie "Rudis Resterampe", dunkle Audis vor noch dunkleren Cafés, und der Makler war "ein Mann, der auch dann zuhörte, wenn niemand etwas sagte". Das steht nun in seinem Buch In den Gangs von Neukölln, in dem die Entwicklung des Viertels nur nebenher miterzählt wird. Denn eigentlich handelt es von der unwahrscheinlichen Freundschaft zu dem Jungen Yehya.

Yehya: der Nachbarsjunge mit Muskelshirt und "Mike-Tyson-Gedenkfrisur", der dem neu zugezogenen Journalisten Stahl die Wasserkisten bis unters Dach trägt. Der damals 15-Jährige ist ein Einserschüler, höflich und hochintelligent. Nachdem die beiden sich anfreunden, erfährt Stahl bald, wie Yehya auf der Sonnenallee genannt wird: "der Psychopath". Und auch das Amtsdeutsch hat für ihn einen Namen: Intensivtäter.

Christian Stahl
In den Gangs von Neukölln - Das Leben des Yehya E.
Hoffmann & Campe Verlag, 256 Seiten
978-3-455-50320-3

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