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Nora Zukker
SRF 3
abspielen. Laufzeit 6 Minuten.
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Suchtbilanz: «Panikherz» von Benjamin von Stuckrad-Barre

Benjamin von Stuckrad-Barre war der coole und eloquente Typ der 90er. Er war das Wunderkind der Popliteratur. Man wollte ihn zum besten Freund haben. Und dann kam die Sucht. Bulimie. Kokain. «Panikherz» ist die Suchtbilanz eines versehrten Mannes, der eigentlich nur eines wollte: Gesehen werden.

Er wollte genau da rein: zu den Helden, in die rauschhaften Nächte – dahin, wo die Musik spielt. Erst hinter und dann auf die Bühne. Unglaublich schnell kam er an, stürzte sich hinein und ging darin fast verloren. Udo Lindenbergs rebellische Märchenlieder prägten und verführten ihn, doch Udo selbst wird Freund und später Retter.

Ein Leben als wäre es schlecht erfunden

Benjamin von Stuckrad-Barre erzählt eine Geschichte, wie man sie sich nicht ausdenken kann: Er wollte den Rockstar-Taumel und das Rockstar-Leben, bekam beides und folgerichtig auch den Rockstar-Absturz. Früher Ruhm, Realitätsverlust, Drogenabhängigkeit. Und nun eine Selbstfindung am dafür unwahrscheinlichsten Ort – im mythenumrankten «Chateau Marmont» in Hollywood, in das ihn Udo führte. Was als Rückzug und Klausur geplant war, erweist sich als Rückkehr ins Schreiben und in ein Leben als Roman. Drumherum tobt der Rausch, der Erzähler bleibt diesmal nüchtern. Schreibend erinnert er sich an seine Träume und Helden – und trifft viele von ihnen wieder. Mit Bret Easton Ellis inspiziert er einen Duschvorhang, er begegnet Westernhagen beim Arzt und Courtney Love in der Raucherecke und geht mit Thomas Gottschalk zum Konzert von Brian Wilson. Andere sind tot und werden doch gegenwärtig, Kurt Cobain, Helmut Dietl.

Leseprobe

Alle zwei Tage kam mein Stammdealer vorbei und brachte mir fünf Kügelchen, wie er sie nannte, kleine Plastiksäckchen mit jeweils einem Gramm Kokain, verschlossen, indem oben das Plastik zusammengedreht und mit einem Feuerzeug angeschmort war. Er transportierte die Kügelchen in seinen Tennissocken, ungefähr aud Knöchelhöhe. Est wenn es dunkel war, wagte ich mich hinaus, ich war der festen Überzeugung, dass der gesamte Innenhof und alle anliegenden und umliegenden Wohnungen einzig mit mich beobachtenden Menschen bevölkert waren. Nachts nahm ich manchmal eine Tüte mit leeren Flaschen mit raus und legte sie vorsichtig in den Altpapiercontainer im Innenhof, zwar gab es auch einen Glascontainer.

Udo nahm die Sonnenbrille ab, schaute mich an, und es ist wirklich gut, dass er immer die Sonnenbrille trägt, gar nicht so sehr, um ihn zu schützen, sondern um die anderen Menschen vor diesem Blick zu schützen. Der ist so unfassbar anrührend, dieser tiefe Udo-Blick, und er weiss auch sehr genau, wann in einem Konzert oder im sonstigen Leben dieser Moment fürs Brilleabnehmen gekommen ist, der dann eine Extraintensität herstellt, kurz, die vielleicht weder er noch der so Angeschaute länger aushalten würde. Udo sah mich also an, legte mir beruhigend den Arm auf die Schulter und sprach den Satz der Sätze, seinen Schlachtruf seit Jahrzehnten, von mir seit Kindheittagen mitgesungen, diesen Satz, der natürlich grammatikalisch gar keiner ist, aber wem da was fehlt, dem fehlen mehr als Tuwörte, diese Weltenformel also, deren Bedeutung ich nun erstmalig im Ganzen erfasste:

Keine Panik!

Mir schossen die Tränen waagrecht aus den Augen, Udo zwinkerte mir zu und setzte die Sonnenbrille wieder auf. Ganz schön speedy unterwegs, hm?, spezifizierte er die Diagnose.
Das, sagte ich, das könne man wohl sagen.

Panikherz
Benjamin von Stuckrad-Barre
Verlag Kiepenheuer & Witsch, 564 Seiten
ISBN: 978-3-462-04885-8

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