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Nora Zukker
SRF 3
abspielen. Laufzeit 7 Minuten 25 Sekunden.
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«Motel Terminal»: Dieser Psychothriller geht in die Knochen

Eine Mutter quält und tötet ihr Kind - aus Liebe! Ein Familiendrama. Ein Psychothriller. Das macht sich Andrea Fischer Schulthess zum Thema ihres Erstlings. Diese Autorin fällt mit ihrer erbarmungslos scharfen Sprache auf - was der Schweizer Literatur sehr gut tut.

Meret, knapp 13 Jahre alt, kennt nichts als ihr kleines Zimmer. Weil die Welt draussen böse ist, wie ihre Mutter Nora sagt. Doch Merets Hamster sterben immer, und Tagebuch-Schreiben füllt noch keinen Tag. Zum Glück gibt es ihre Grosstante Julie, die Besitzerin und einzige weitere Bewohnerin des Motels. Sie kümmert sich um die geliebte Meret und lädt sie ab und zu heimlich zu sich in die gute Stube ein.

Auch Nora liebt nichts und niemanden so sehr wie Meret. Doch sie ist überzeugt, dass die Behörden ihr die uneheliche und unregistrierte Tochter wegnehmen würden, wenn sie von ihr erführen. Deshalb versucht die junge Mutter mit aller Macht, eine perfekte Situation für das Leben als kleine Familie zu schaffen und gibt dafür dem wohlhabenden Banker Stefan eine gute Ehefrau. Sie wartet nur noch auf den richtigen Moment, um ihm von ihrem heimlichen Kind zu erzählen und alles endlich gutzumachen. Aber es kommt alles anders und Nora sieht keinen anderen Ausweg, als ihr Kind zu töten, bevor alles auffliegt.

Eine neue starke Stimme in der Schweizer Literaturszene

Andrea Fischer Schulthess kannte ich bis heute als Journalistin. Und dann lese ich ihren Erstling, ihren Roman, der aber viel mehr ein Psychothriller ist, ein Familiendrama. Es verschlug mir die Sprache. Wo war diese Frau nur so lange? Andrea Fischer Schulthess hat eine Beobachtungsgabe für das Unheimliche, das Absurde, das Abgründige und das Widerliche. Und sie findet die richtigen Worte, um darüber zu schreiben. Sie schafft Figuren mit vielschichtigen Innenleben, über die ich lesen will. Ich will diese Figuren nicht mehr loslassen, bis ich am Ende des Buches hoffe, dass ich sie verstehe. Das Buch und seine Autorin sind meine eine Endeckung in diesem zaghaften Frühling.

Leseprobe

Nora fuhr rückwärts aus der Einfahrt des Motels. Als sie das Auto wendete, spürte sie Merets Sehnsucht im Nacken. Irgendwann werde ich mein Versprechen wahr machen und ihr die Tür öffnen, sie an der Hand nehmen und mit ihr unter den offenen Himmel treten. Dann sind wir frei. Bloss wann? Und wie? Sie wusste es nicht und hatte es noch nie gewusst. Alles war einfach immer gescheken, hatte Tag für Tag stattgefunden und sie beide mitgetragen.

Dennoch das Versprechen blieb. Er war ihr Mantra und es flutete mit der gleichen Unabdingbarkeit ihr Sein, mit der sie atmete. Nicht weil sie sich dafür entschieden hatte, sondern weil es ihr beschieden war. Sie lebte nun mal. So war das eben.

Früher hatte das Geheimnis, das nur sie, Meret und Julie teilten, sie ausgefüllt. Die Gewissheit, das Richtige und einzig Mögliche zu tun, hatte ihre Schritte gelenkt. Doch seit ein paar Monaten flimmerte es im Kern dieser Ruhe. Das Geheimnis lag in ihr wie ein schlaffer Schlauch mit einem Leck. Ein Teil von ihr hatte schon seit Anbeginn der Zeitrechnung, seit Merets Geburt also, gewusst, dass sie nie mit ihr unter den freien Himmel treten würde. Dieser Teil hatte das nie gewollt und würde es nie wollen. Damit hatte sie fast dreizehn Jahre lange gut gelebt. Doch nun breitete sich dieses Wissen in ihr aus wie ein Pilz, der sich unbemerkt in ihr niedergelassen hatte und nun seine unsichtbaren Fäden in sie trieb, immer tiefer und tiefer. Und als sie es endlich bemerkt hatte und ihren eigenen Lügen nicht mehr glaubte, wa es schon zu spät gewesen.

Je näher sie der Stadt kam, desto dickflüssiger wurde der Verkehr. Nora öffnete die Fenster und neigte den Kopf ins Freie. Atmen. Heute würde Stefan nach Hause kommen. Es war ihr fünfter Hochzeitstag und sie wusste, dass sie sich in den Fäden ihres Pilzes verheddern würde. Wenn nicht heute, dann bald. Denn Stefan wollte Kinder.

Beim Gedanken an ihren Mann seufzte sie und liess sich ruhig in die Stadt treiben, je zäher der Verkehr, umso besser. Ihr wahres Ziel lag nicht am Ende dieser Strasse. Zu leben, ohne dass es wehtut, wäre schon genug, dachte sie.

Motel Terminal
Andrea Fischer Schulthess
Salis Verlag, 330 Seiten
ISBN: 978-3-906195-41-4

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