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Nora Zukker.
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«Einer von uns»: Die Geschichte des Massenmörders Anders Breivik

Wie ein perfekt komponierter Krimi liest sich Åsne Seierstads Buch «Einer von uns». Und dann gefriert einem immer wieder fast das Blut, weil Åsne Seierstad die wahre Geschichte über den Massenmörder Anders Breivik erzählt.

Wie konnte sich Anders Breivik, der im wohlhabenden Westen aufwuchs, zu einem perfiden Terroristen entwickeln? Åsne Seierstads ausgezeichnetes Buch ist gleichzeitig psychologische Studie und literarisches True Crime, gleichzeitig Würdigung der Opfer und eine messerscharfe Analyse einer Tat, die sich jederzeit und überall wiederholen könnte.

Will ich das Innere eines Mörders kennen?

Nein, natürlich will ich das nicht unbedingt. Ich will doch Bücher lesen, die mich mit guten Gefühlen zurück in die Realität entlassen. Aber gerade heute, in einer Zeit in der sich Attentate häufen ist es genau so die Aufgabe der Autoren Bücher zu schreiben, die Form und Sprache finden für das Unfassbare, das Furchtbare und das Wahre. Die Journalistin Åsne Seierstad hat Breiviks Prozess verfolgt, Unterlagen studiert, mit den Angehörigen der Opfer geredet und mit Breiviks Mutter, seiner wichtigsten Bezugsperson. Daraus schreibt sie keine journalistische Aufarbeitung einer Grausamkeit, nein, sie schreibt eine literarische Reportage, von deren Sog man sich schlicht und einfach nicht entziehen kann.

Den Schuss ins Herz spürt man erst später

Man hält es nur schwer aus. Man kann es zur Seite legen nach zehn Seiten und sagen, sowas will ich nicht lesen. Eine Zumutung. Jeder Satz eine Grenzüberschreitung, ein Schuss ins Herz, den wir vielleicht erst in seiner Wucht begreifen, wenn wir das Buch zu Ende gelesen haben. Åsne Seierstads Sprache ist präzise, genau und kühl und damit wird sie dem Brutalen mehr als gerecht.

Åsne Seierstad, geboren 1970 in Oslo, als Korrespondentin und Kriegsberichterstatterin für verschiedene internationale Zeitungen und ist Autorin mehrerer Sachbücher. Sowohl als Journalistin als auch für ihren weltweiten Bestseller »Der Buchhändler aus Kabul« (2002) wurde sie vielfach ausgezeichnet. Sie lebt in Oslo.

Leseprobe

Sie rannte.
Den Hügel hinauf, durch das Moos. Die Gummistiefel sanken im nassen Boden ein. Der Waldboden gluckste unter den Füßen.
Sie hatte es gesehen.
Sie hatte gesehen, wie er geschossen hatte und ein Junge niedergesunken war.
»Wir werden nicht sterben«, hatte sie zu ihren Freundinnen gesagt.
»Nicht heute.«
Da hörte sie mehrere Schüsse. Eine Salve. Pause. Eine neue Salve. Sie hatte den Pfad der Verliebten erreicht. Ringsumher liefen Jugendliche und suchten nach Verstecken. Neben dem Pfad stand ein rostiger Drahtzaun, und auf der anderen Seite fielen steile Klippen in den Tyrifjord ab. Ein paar Maiglöckchen klammerten sich an den Abgrund. Sie waren verblüht, und aus den Blattkelchen tropfte Regenwasser auf den nackten Fels. Von oben betrachtet sah die Insel grün aus. Die Kronen der großen Kiefern gingen ineinander über, und die Laubbäume streckten ihre schmalen Äste in den Himmel. Doch hier unten am Boden war der Wald spärlich, nur an wenigen Stellen war das Gras hoch genug, um sich darin zu verstecken. An einem Abhang ragten flache Felsen aus der Erde, wie Schilde, unter die man kriechen konnte.
Die Schüsse wurden lauter.
Wer war das? Wie viele mochten es sein?
Sie duckte sich und kroch weiter. Alle suchten nach Verstecken.
Es war zu spät zum Davonlaufen.
»Wir müssen uns tot stellen«, sagte ein Junge. »Legt euch in einer komischen Stellung hin, dann glauben sie, wir sind tot!«

Sie ließ sich auf den Bauch fallen und drehte das Gesicht zur Seite.
Ein Junge legte sich neben sie, den Arm um ihre Hüfte.
Sie waren elf.
Alle taten, was der Junge gesagt hatte.
Hätte er »Lauft!« gerufen, wären sie vielleicht um ihr Leben gerannt. Aber er sagte »Legt euch hin.« So lagen sie dicht beisammen und drehten die Köpfe zum Wald und den dunklen Baumstämmen, die Füße am Zaun. Manche lagen sogar übereinander. Zwei beste Freundinnen hielten sich an den Händen.
»Alles wird gut«, sagte einer der elf.
Der schlimmste Regen hatte sich gelegt, aber das Wasser lief ihnen noch immer über die verschwitzten Wangen in die Krägen.
Sie atmeten so flach und lautlos wie möglich.
Auf den Klippen wuchs ein verirrter Himbeerbusch, Wildrosen mit blassrosa, fast weißen Blüten rankten um den Zaun.
Dann hörten sie seine Schritte.
Er streifte ruhig durchs Gestrüpp, über Glockenblumen und gelben Hornklee. Seine Stiefel stampften fest auf, trockene Zweige knackten. Er hatte bleiche, feuchte Haut und hellblaue Augen. Das dünne Haar war über der Halbglatze zurückgekämmt. Sein Kreislauf war voller Koffein, Ephedrin und Aspirin.
Bis jetzt hatte er zweiundzwanzig Menschen auf der Insel getötet. Nach dem ersten Schuss war alles leichter. Der erste Schuss hatte Überwindung gekostet. Es war fast unmöglich gewesen, aber nun schritt er entspannt voran, die Pistole in der Hand. Auf der Anhöhe, hinter der die elf Jugendlichen lagen, blieb er stehen. Er blickte auf sie herab und fragte: »Wo zum Teufel ist er?«
Seine Stimme war laut und klar.
Keiner antwortete, keiner rührte sich.
Der Arm des Jungen lag schwer auf ihr. Sie trug eine rote Regenjacke und Gummistiefel, er karierte Shorts und ein T-Shirt. Sie war sonnengebräunt, er bleich.
Der Mann auf der Anhöhe begann von rechts.
Der erste Schuss traf den Jungen, der außen lag, in den Kopf.
Dann zielte er auf ihren Hinterkopf. Ihr lockiges, kastanienbraunes Haar schimmerte im Regen. Die Kugel drang durch den Schädel ins Hirn. Er schoss noch einmal, diesmal in die Stirn. Wieder drang das Geschoss durchs Hirn und weiter durch Hals und Brusthöhle, bis es neben dem Herzen stecken blieb. Blut rann über den jungen Körper, lief auf den Pfad und sammelte sich in kleinen Pfützen.
Sekunden später wurde der Junge, der den Arm um sie gelegt hatte, getroffen. Der Schuss durchschlug seinen Hinterkopf, die Kugel splitterte beim Eindringen auf, traf das Kleinhirn und zerfetzte den Hirnstamm.
Sein Herz hörte auf zu schlagen.
Das Blut mischte sich mit Regenwasser und sickerte in den Boden.
In einer Tasche klingelte ein Handy. Ein anderes piepte, als eine SMS ankam.
Ein Mädchen flüsterte kaum hörbar »nein «, als auch sie in den Kopf getroffen wurde. Sie zog das Wort in die Länge, bis sie verstummte.
Die Schüsse fielen innerhalb weniger Sekunden.Er hatte Waffen mit Laserschussprüfer. Die Pistole schickte einen grünen Strahl aus, das Gewehr einen roten, und die Kugeln trafen genau auf die Lichtpunkte.
Am Ende der Reihe sah ein Mädchen zu seinen schwarzen, schlammigen Stiefeln auf. An den Absätzen steckten spitze Sporen.
Ein kariertes Reflektorband schimmerte am Hosenbein.
Sie hielt ihre beste Freundin an der Hand. Ihre Gesichter waren einander zugewendet.
Ein Schuss knallte und traf die Stirn ihrer Freundin. Sie zuckte, und ihre Hand wurde schlaff.
Siebzehn Jahre sind kein langes Leben, dachte das Mädchen, das noch am Leben war.
Dann knallte es wieder.


Einer von uns
Åsne Seierstad
Kein & Aber Verlag
ISBN: 978-3-0369-5740-1

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