Zum Inhalt springen

Header

Audio
Nora Zukker
SRF 3
abspielen. Laufzeit 6 Minuten 18 Sekunden.
Inhalt

Ein fulminantes Romandebut: «Hier können Sie im Kreis gehen»

Frédéric Zwicker ist der Frontmann von «Knuts Koffer». Seine Liedtexte schreibt er in Mundart. Jetzt hat er einen Roman geschrieben. Eine Millieustudie. Schauplatz: Pflegeheim. Den 32 jährigen Frédéric Zwicker muss man sich merken. Eine neue bemerkenswerte Stimme der Schweizer Literatur.

Im Alter von 91 Jahren kommt der demente Witwer Johannes Kehr ins Pflegeheim. Nur: Seine Demenz ist vorgetäuscht.
Im Heim hofft Kehr, seine Ruhe zu finden. Aber so einfach ist es nicht. Er beobachtet die schrulligen, nicht selten aggressiven Mitbewohner und die Nachlässigkeit der Pfleger. Seine vorgetäuschte Demenz nutzt er, um Desserts zu stehlen und Gehhilfen unliebsamer Nachbarn zu verstecken. Bald aber wird seine Schauspielerei anspruchsvoller; je vertrauter ihm das Heim wird, desto grösser ist die Gefahr einer Enttarnung.
Als zufällig seine Jugendliebe Annemarie auftaucht, flackert die alte Zuneigung erneut auf.

Frédéric Zwicker, wurde 1983 in Lausanne geboren und wuchs in Rapperswil-Jona am Zürichsee auf, wo er heute wieder lebt. Während seines Studiums der Germanistik, Geschichte und Philosophie trat er regelmässig an Poetry Slams auf. 2006 gründete er mit dem Jazzmusiker Matthias Tschopp die Band Knuts Koffer, die seine Texte musikalisch umsetzt. Zwicker arbeitete als Werbetexter, Journalist, Pointenschreiber für die Satiresendung Giacobbo/Müller, als Moderator von Lesungen, Musiklehrer und Leiter von Literaturworkshops an Schulen. Neben seinen Auftritten arbeitet Zwicker heute für die Kulturzeitschrift Saiten.

Leseprobe

Willkommen im steingewordenen Euphemismus Pflegeheim, willkommen in der Fata Morgana, im Zauberschloss, das inmitten einer profanen Welt thront, in der selbst die Liebe in Pheromone, Neurotransmitter und Fortpflanzungstrieb zur Weitergabe der eigenen Gene zerlegt ist. Paradoxerweise ist es ausgerechnet die Wissenschaft, diese nimmersatte Magiezerstörerin, die die Zaubersprüche ins grosse Lehrbuch der Pflegeheimzauberkunst geschrieben hat. Und es braucht tatsächlich mächtige Magie, um dieser Misere der westlichen Welt beizukommen. Denn es ist so: Kein Mensch will ins Pflegeheim, kein Mensch fühlt sich wohl dabei, Angehörige ins Pflegeheim zu bringen.
Das Erste, was jeder zu sehen bekommt, der sich dem Heim nähert, ist das Ziegengehege, das nicht zufällig rund um einen alten, majestätischen Baum herum angeordnet ist. Die Ziegen sind die Vorposten. Sie klettern auf Steine, stellen sich auf die Hinterbeine, um die tiefhängenden Blättern zu naschen, balgen sich und meckern laut und lustig. Der altehrwürdige Baum und die Ziegen flüstern zusammen die Worte Kraft, Weisheit, Würde und Lebensfreude.
Pflegeheime sind prächtige Häuser mit vielen grossen Fenstern. Und keine Farbe blättert, kein Scharnier quietscht, kein Rohr ist verstopft. Pflegeheime altern nicht. Um die ewige Jugend zu garantieren, sind Haustechniker eingestellt, plastische Chirurgen, die rund um die Uhr sofort zur Stelle sind, sollte eine Alterserscheinung auftreten und der Korrektur bedürfen. Und dann ist da die Gartenanlage vor oder hinter dem Haus, wie Saisonales blüht und Gewächse ausgerissen und in aller Stille entsorgt werden, bevor ihr Zerfall sichtbar wird. Verdorrte Blätter und Ästchen sieht man nicht. Vögel singen, Blumen blühen, Ordnung herrscht, das Leben in voller Kraft. Hier können sie im Kreis gehen, die Insassen, oder sie werden im Kreis herumgeschoben. Eine Runde, vielleicht zwei, wenn die Pflegerin selber frische Luft braucht.

Heute Abend um 19:30 Uhr ist die Buchpremiere im Sphères in Zürich.

Hier können Sie im Kreis gehen
Frédéric Zwicker
Nagel & Kimche, 158 Seiten
ISBN: 978-3-312-00999-2

 

Mehr von «Lesezunder»