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Nora Zukker
SRF 3
abspielen. Laufzeit 3 Minuten 39 Sekunden.
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«Ante Finem»: Tragische Liebesgeschichte während der Nazizeit

Der Schweizer Schriftsteller Iwan Weidmann erzählt das Leben von Karl Bessler, der immer ein anderer sein wollte, sich aber nie zu entfliehen vermochte. Der glaubte, er kann sich aus den Geschehnissen seiner Zeit heraushalten, sich aber doch in sie verstrickte.

Ein Junge, der unbedingt Fotograf werden will. Sein Vater, der berühmte Chirurg, der ihn schon als Nachfolger sieht. Eine Frau in Prag. Unfähig zu einem Anfang, lässt er die Begegnung als verpasste Gelegenheit enden. Fünfzehn Jahre später. Nationalsozialismus. Krieg. Unverhofft steht sie ihm in München wieder gegenüber. Eine grosse Liebe beginnt. Und bald auch eine nicht enden wollende Lüge.

Eine grosse Liebesgeschichte in einer schwierigen Zeit

Karl Bessler liebt Sophie Rosenzweig. Sophie Rosenzweig liebt Karl Bessler. Sie, eine Jüdin aus Prag. Er, ein Deutscher aus München. Dass Sophie Rosenzweig sich nicht als Jüdin fühlte, dass ihre Familie nichts auf die jüdischen Rituale hielt, interessierte in der Zeit des Nationalsozialismus keinen. Und so wusste Karl sich nicht anders zu helfen, als Sophie zu verstecken. Es fehlte ihr an nichts, sie lebte wie eine Prinzessin bei Karl und war damit mehr als glücklich. Nur wenn die beiden mit dem Auto fuhren, musste sie sich unter eine Decke auf die Rückbank legen. Iwan Weidmann führt uns in seinem Roman so nahe an seine zwei Hauptfiguren heran, dass wir uns einfühlen. Dass wir auch für Karl, der sich von Adolf Hitlers Programm einwickeln lässt, Verständnis aufbringen. Und dann lesen wir über Sophie. Die Frau, die zurück bleibt, als Karl stirbt und die sich fragt, warum er ihr nie die Wahrheit über seine Arbeit bei der SS erzählte. Sie zweifelt an ihrer Liebe, an ihrem gemeinsamen Leben, an der Zeit. Aber Karl ist tot und Sophie versucht mit den Erinnerungen zurecht zu kommen und mit dem Schmerz, dass es keinen Abschied gab.

Dieser Roman geht in die Knochen

Iwan Weidmann hat zwei Dinge richtig gemacht. Er entscheidet sich für zwei Perspektiven. Die von Karl und die von Sophie. Die ersten 150 Seiten lesen wir über Karls Leben, seine Kindheit unter dem strengen Vater, der klare Vorstellungen von Karls Zukunft hatte, die aber nicht die gleichen waren, wie Karls Vorstellungen. Diese Erzählweise ist darum so gut, weil Iwan Weidmann dadurch nicht moralisiert. Iwan Weidmann beschreibt das Schicksal zweier Menschen, die unter Adolf Hitler lebten und unter diesem Parteiprogramm zurecht kommen mussten. Noch mehr beeindruckt mich Iwan Weidmanns präzise Sprache. Kein Wort zu viel, jedes Wort gut gewählt. Auch das ist nicht zu unterschätzen, wenn man bedenkt vor welchem thematischen Hintergrund dieser Roman erzählt wird. Es ist wichtig, dass wir solche Bücher lesen. Dass wir uns erinnern, an das, was war.

Iwan Weidmann, geboren 1966, lebt in Zürich. Über fünfzehn Jahre war er als Texter und zuletzt Kreativdirektor für führende Werbeagenturen tätig. Dieser Roman ist sein erstes Buch.

Leseprobe (Auszüge)

Doch seine immerwährende Unsicherheit hatte die Sorge rasch zur lähmenden Angst werden lassen. Schnell hatte Karl auf seine Anfangslüge so viel weitere getürmt, dass ein Lügengebäude entstanden war, das wie eine umgekehrte Pyramide auf der Spitze stand und unmöglich zurückgebaut werden, sondern bloss mit weiteren Erfindungen und Täuschungen im Gleichgewicht gehalten werden konnte. Nicht ohne Sophie, aber auch nur schwer mit seinen Lügen leben zu können, war er stets alles andere als ein Überzeugungstäter gewesen, hätte der Abgrund zwischen dem, was er tat, und dem, was er fühlte nicht grösser sein können. Trotzdem füllte er die Rolle des Geschichtenfälschers, die ihn anfangs Anstrengung und Überwindung gekostet hatte, bals mit einer traumwandlerischen Sicherheit aus, hatte er eine Realität geschaffen, die in sich so stimmig war, dass sie ihn, wenn er die Augen vor seinem Tun gerade einmal nicht verschlossen hielt, selbst erschreckte. Immer wieder hatte Karl im Konjunktiv über sein Leben sinniert. Auch als er das Arbeitszimmer am Ende des Flurs erreicht und sich einmal mehr hingesetzt hatte, um endlich den Brief an Sophie zu schreiben, den er so oft schon begonnen aber nie beendet hatte, hatte er sich gefragt, wie sein Leben wohl verlaufen wäre, wäre er nicht der geworden, der er war.

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Über ihrem Bild, das fast einen Viertel der Titelseite ausfüllte, las sie die fett abgesetzte Schlagzeile "Versteckte Jüdin erbt Millionen." Auch das Haus hatten sie fotografiert. "Nach dem Selbstmord von Dr. Karl Bressler, dem Sohn des berühmten Chirurgen Prof. Heinrich Bressler, wurde in dessen Villa am Starnberger See die völlig verstörte Sophie Rosenzweig entdeckt. Der Arzt hielt die Jüdin dort seit 1943 versteckt." Sophie mochte nicht weiterlesen. Doch die rote Zeile ganz unten war nicht zu übersehen: "Weiter auf Seite 4: Der Abschiedsbrief von Dr. Bressler mit dem Geständnis seiner unglaublichen Lüge." Tatsächlich war der Brief, den sie in einer Tasche ihres Kleides bei sich trug, in voller Länge, der erste Bogen sogar als Abbildung, abgedruckt. Einen Moment wollte sie ihn zusammen mit der Zeitung aus dem Autofenster werden - diesen Brief, der nun nicht mehr der ihre war. Dann drückte sie die riesige Zeitung mit beiden Händen in den Fussraum des Wagens, wo sie diese in einer sinnlos anmutenden Bewegung mit den Füssen zusammenschob, als würde sie versuchen, sich gegen einen schlammigen Abhang wehren, den sie so oder so hinabrutschen würde. Wieder war sie die "Jüdin". Einmal mehr die Verfolgte. Bloss war sie von der Geächteten zur Attraktion, vom Hassobjekt zum Sensationsobjekt geworden.

 

Iwan Weidmann
Ante Finem
Edition Tiamat, 207 Seiten
ISBN: 978-3-89320-207-2

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