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Nora Zukker
SRF 3
abspielen. Laufzeit 4 Minuten 14 Sekunden.
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Wir lieben nur, was auf dem Spiel steht

Weder im Gelingen noch im Scheitern liegt etwas Dramatisches. Die Männer und Frauen in den kurzen Erzählungen haben sich arrangiert. Sollte ihnen das Arrangement mit ihrem Leben nicht mehr gelingen, dann holen sie sich den Tod.

Die Geschichten dieses kleinen Bandes "Geliebt" von Dieter Lenzen erzählen von Leben und Tod, Liebe und Einsamkeit, Souveränität und Schwäche, Erwartungen und Enttäuschungen - und von dem Gleichgewicht, das zwischen beidem zu halten ist. Dieter Lenzens Figuren eint ihr Bedürfnis nach Liebe, Nähe und Geborgenheit. Mit feiner Beobachtungsgabe schildert er scheinbar alltägliche Begegnungen und Einsichten und bewahrt so alte Wahrheiten davor, in Vergessenheit zu geraten.

Wenn die Figuren in den Erzählungen vom Ausbalancieren und Aushalten der elementaren und existentiellen Gegensätze sprechen, mit denen sie es tagtäglich zu tun haben, verwenden sie zumeist beiläufige gelegentlich auch grosse Worte und Gesten. Von ihrem Pathos, dem verhaltenen wie dem offenen, bleibt die Stimme des Erzählers unberührt. Er beobachtet lediglich die kleinen Szenen, die sich vor seinen Augen und Ohren abspielen, und gibt seine Beobachtung zu Protokoll.

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Leseprobe

Er hatte den ganzen Nachmittag Chopin gehört, so laut, dass das junge Paar aus der Nachbarswohnung um fünf Uhr bei ihm geklingelt hatte und fragte, ob er seine Musik etwas leiser stellen könnte. Sie müsse noch Klassenarbeiten korrigieren, sagte sie mit einem vorsichtigen Lächeln, während sie ihren rechten Arm um ihren Freund schlang. Die schlanke Rothaarige hatte dabei ihren Kopf an seine Schulter gelegt, so als ob sie damit demonstrieren wollte, sie wären in dieser Frage einer Auffassung. Das war gar nicht notwendig, denn Karl fand auch so, dass beide völlig im Recht waren, als er, in seiner geöffneten Wohnungstür stehend, mehr Chopin als die Stimme der freundlichen Nachbarin unter ihrer grünen, eckigen Brille hörte. Karl hob beide Hände an seine Ohren, zeigte damit sein Verständnis über die Abmahnung seiner Fahrlässigkeit, entschuldigte sich mehrfach mit einigem Gestammel über eine Frau, an die er habe denken müssen, eilte zurück in seine Wohnung, aus der vor einer Sekunde zur anderen keine Musik mehr drang, sodass das junge Paar erschrak über die plötzliche Stille und irgendwie fast verstört in seine Wohnung zurückging.

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Dieter Lenzen: Geliebt
Erzählungen
Hoffmann und Campe Verlag, 118 Seiten
ISBN: 978-3-455-40520-0

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