Es war 1941: «Mami, erzähl mir was!» Die damals siebenjährige Karin lag mit einer Lungenentzündung im Bett. Ihre Mutter fragte: «Was soll ich denn erzählen?» Karin: «Erzähl mir von Pippi Langstrumpf!» Karin hatte den Namen in genau diesem Augenblick erfunden. Und ohne nachzufragen, wer Pippi denn sei, begann Astrid Lindgren zu erzählen. Jeden Abend kam eine neue Geschichte hinzu. Und der Kreis der begeisterten Zuhörerinnen wurde immer grösser.
Mit der Begeisterung ihrer Tochter für Pippi war auch eines von Astrid Lindgrens ganz persönlichen Zielen erreicht: sie wollte Karin, einem ängstlichen Kind, zeigen, dass es auch möglich ist, mit Selbstbewusstsein durchs Leben zu gehen, dass man mit Mut etwas verändern kann.
Zum 10. Geburtstag schenkte Astrid Lindgren Karin die niedergeschriebenen Pippi-Geschichten und schickte sie gleichzeitig einem Verlag. Dieser lehnte sie ab – erst als Lindgren damit einen Wettbewerb gewann, wurden sie 1945 veröffentlicht. Und gerieten in einen Sturm der Entrüstung und Kritik: man las «Pippi» als Plädoyer für Anarchie und für antiautoritäre Erziehung.
Lindgren wurde gründlich missverstanden. Wie sie auch in einem Interview 1982 mit dem damaligen Schweizer Radio DRS 2 sagte, war sie überhaupt nicht dafür, dass Kinder ohne Normen aufwachsen: «Sie brauchen kluge Eltern, die sie lieben, aber doch wissen, dass man Grenzen setzen muss.»
Pippi entstand aus dem Leben heraus
Was für ein Meilenstein die Veröffentlichung von Pippi tatsächlich war, sieht man erst im Rückblick. Vor der Veröffentlichung ihrer Geschichten waren viele Mädchenfiguren in den Kinderbüchern vor allem Prinzessinnen oder versehrte Kinder. Pippi ist keines von beiden. Sie ist glücklich und frei, völlig losgelöst von sozialen Konventionen. Ein ideales literarisches Vorbild für den Feminismus. Aber ein eher zufälliges: Astrid Lindgren, schon damals eine emanzipierte Frau, erfand Pippi «einfach» aus dem Leben heraus. Sie folgte keiner feministischen Theorie, sondern erfand Pippi spontan. Für ihre Tochter.
Alle Menschen haben Macht über jemanden, und wenn sie sich selbst dazu erziehen könnten, diese Macht nicht zu missbrauchen, dann wäre es gut.
Nichtsdestotrotz wurde Pippi für viele Kinder auf der ganzen Welt zum Vorbild und zur Identifikationsfigur. Bis heute. Bei weitem nicht nur für Mädchen. Denn sie hat universelle Eigenschaften: Erwachsenen ist Pippi ebenbürtig, sie traut sich sogar, ihnen Streiche zu spielen. Gleichzeitig weiss sie aber auch um ihre Schwächen und Unsicherheiten, ist sensibel, hat einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und setzt sich für alle ein, die sich nicht so wehren können wie sie.
Pippi ist ein Machtmensch
Für Astrid Lindgren ist Pippi nicht in erster Linie eine feministische Ikone, sondern steht für einen Menschen, der seine Macht nicht missbraucht. 1982 sagte Lindgren auf Radio DRS 2: «Alle Menschen haben Macht über jemanden, und wenn sie sich selbst dazu erziehen könnten, diese Macht nicht zu missbrauchen, dann wäre es gut.» Diese Aussage versteht man besser vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs, dessen Geschehen Lindgren sehr intensiv verfolgte. Aber sie gilt heute genauso wie damals. Und deshalb sind viele von Pippis Eigenschaften zeitlos.