Der Ich-Erzähler Dinić wird von seinen Schulkollegen Švabo - Schwabe - genannt. Weil er im Deutschunterricht am XVI. Gymnasium in Belgrad der Beste war. Das ist zehn Jahre her. Jetzt sitzt Dinić (30) im Euroliner-Bus von Wien nach Belgrad. Erst vor einer Stunde ist die Fahrt im Gastarbeiterexpress losgegangen und schon herrscht Ausnahmezustand. Turbofolk-Musik scheppert aus dem Lautsprecher. «Es wird geflucht, gegrölt und gegen Kroaten oder Muslime oder Amerikaner oder Österreicher oder Schwarze oder Politiker gewettert.» Es wird gesoffen, geschlotet, verbal ausgeteilt.
Ich-Erzähler Dinić ist ein Leben im Ausnahmezustand gewohnt. Seine Kindheit und Jugend waren von Milošević, den Jugoslawienkriege, den Sanktionen und dem Nato-Bombardement geprägt. Und dann der Vater! Ein kleiner Beamter im Innenministerium. Ein gesichtsloser Drecksack, der den Ich-Erzähler Dinić grün und blau geschlagen hat. Ein Altkommunist, «dem bereits sein Vater ins Hirn geschissen hat» und der «lediglich die Partei gewechselt hat, von Tito auf Patriarch Pavle, von der Faust auf die drei gespreizten Finger.» Dinić weiss nicht, was schlimmer ist. Während der langen Busreise hängt er seinen Erinnerungen nach. Wie ihm die Grossmutter vor zehn Jahren den Rat gegeben hat: «Hau ab, werde ein normaler Mensch, solange du kannst.» Jetzt ist die Baba tot. Und die Reise zur Beerdigung wird zu einer Reise in die Vergangenheit.
Daumen rauf
- Eindrücklich. Marko Dinić rechnet in seinem autofiktionalen Roman mit der serbischen Väter-Generation ab: «Der ganze Balkan litt unter diesen falschen Vätern, die den Krieg mit nach Hause gebracht und das persönliche Trauma zu einem kollektiven gemacht hatten. Besonders meine Generation litt darunter, die sich erst sehr spät wehren oder wie ich davonrennen konnte.» Doch leider nützt das Davonrennen dem Erzähler nichts. Er realisiert am Ende, dass er auch nach zehn Jahren im Exil nirgends angekommen ist.
- Erhellend. Ich erfahre wie Miloševićs Propaganda funktioniert. Ein Beispiel: Als die Nato-Flieger kamen wurden die Schulen geschlossen und « wir alle, auch die schlechten Schüler, bekamen ein Sehr gut ins Zeugnis. Während die Erwachsenen um unsere Sicherheit bangten, waren wir schon längst in den Wäldern und auf den menschenleeren Strassen. Milošević hatte uns zu den glücklichsten Kindern der Welt gemacht, und zum Dank lernten wir von ihm, wie man abgrundtief hasst. »
- Authentisch. Marko Dinić beschreibt bildstark und präzise die Lebenssituation und den Alltag in Serbien. Wie hart der Überlebenkskampf ist, wenn man nicht zur Elite gehört. Man merkt, dass sich der Autor sehr gezielt mit Herkunft, Identität und Exil auseinandergesetzt hat. Auch wie er die Reise im Gastarbeiterexpress als «Abziehbild des ehemaligen Jugoslawien» beschreibt, ist phänomenal. Viele Serben haben sich als Gastarbeiter im Ausland eine Identität aufgebaut. Wenn ihr mal die Chance habt, lasst euch auf eine solche Busreise ein. Sie wird bestimmt ein Erlebnis sein!
- Clevere Tarnung. Wieviel von Marko Dinić steckt in der gleichnamigen Romanfigur? Ich habe beim Autor nachgefragt. Dieser klärt mich auf: Dinić sei nicht Dinić. Nur einmal werde sein Protagonist von einem Lehrer Dinić und einmal abschätzig Švabo genannt. Gleichwohl sei aber eine autobiografische Lesart zulässig. Viel Biografisches aus seinem näheren Umfeld und auch viel Persönliches stecke in seiner Figur. Dobro, dobro...
Daumen runter
- Zu reichhaltig. Der Autor packt unheimlich viel in seinen Roman hinein. Er analysiert, reflektiert, provoziert. Er will alles erzählen: Leben in Serbien heute und damals, Leben in der Diaspora in Wien, in einem typischen Exilanten-Quartier. Dann eine serbische Familiengeschichte über mehrere Generationen hinweg. Die Geschichte des Sohnes, des Vaters, der Grossmutter. Das alles dampft er zu einer Story zusammen. Diese leidet darunter, fläddert aus. Die Spannung sackt ab. Am Ende kriege ich Dichtestress und bin froh, dass die Reise im Euroliner zu Ende und die Grossmutter beerdigt ist.
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Der Autor
Marko Dinić ist 1988 in Wien geboren und verbrachte seine Kindheit und Jugend in Belgrad. Er studierte in Salzburg Germanistik und Jüdische Kulturgeschichte. «Die guten Tage» ist sein erster Roman.
Das Buch: Marko Dinić: «Die guten Tage» (2019, Zsolnay)
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