Wer kennt schon alle Buchstaben der sogenannten LGBTIQ-Bewegung? Die wenigsten. Vor allem, weil scheinbar ständig neue dazukommen. Da ist es schwierig, am Ball zu bleiben.
Eine wichtige Erkenntnis hilft dabei: Sexualität und Identität sind zwei ganz unterschiedliche Dinge. Welche Geschlechtsidentität oder welches Geschlecht eine Person hat, hat nichts mit der sexuellen Ausrichtung der Person zu tun. Die sexuelle Orientierung und das eigene Geschlecht, das sind zwei verschiedene Dinge.
Das Familientreffen – die Party
-
Bild 1 von 6. Rot, Orange, Gelb, Grün, Blau, Violett. Die sechs Farben der klassischen Regenbogenflagge, hier als Gesichtsbemalung einer jungen Frau an der Zurich Pride. Bildquelle: Keystone / Melanie Duchene.
-
Bild 2 von 6. Die Regenbogenflagge ist allgegenwärtig. Dies ist die bekannteste Variante mit sechs Farben. Designt wurde sie von Gilbert Baker. Bildquelle: Keystone / Melanie Duchene.
-
Bild 3 von 6. Das Motto des Zurich Pride Festivals von 2019 lautete «Strong in diversity» also übersetzt etwa «Stark durch Vielfalt». Bildquelle: Keystone / Melanie Duchene.
-
Bild 4 von 6. Der Regenbogen. In Zürichs Innenstadt, besonders rund um den Veranstaltungsort, waren selbst die Verkehrsschilder und wie hier zu sehen, sogar die Fussgängerstreifen in Regenbogenfarben. Bildquelle: Keystone / Melanie Duchene.
-
Bild 5 von 6. Der Name «Pride» also Englisch für «Stolz» steht für das neue Selbstverständnis der modernen LGBTQ-Bewegung. Bildquelle: Keystone / Melanie Duchene.
-
Bild 6 von 6. Die Jugendorganisation «Milchjugend» ist ein Verein für queere Jugendliche und setzte sich, mit dem Wahlspruch «The next generation, for queer liberation», laut skandierend für ihre Rechte ein. Bildquelle: Keystone / Melanie Buchene.
Sichtbar wird die sogenannt Queere-Community vor allem bei ihrem grössten Zusammentreffen im Juni, dem Zürich Pride Festival. Der Anlass, der aus dem Christopher Street Day (CSD) hervorging, ist Familientreffen, gigantische Freiluftparty und politische Demonstration in einem.
Sein Ursprung ist aber alles andere als fröhlich. Denn erst Krawalle in der Christopher Street in New York, entstanden in der Schwulenbar «Stonewall-Inn» gaben 1969 der Bewegung den richtigen Anstoss.
An der Pride treffen wir auch auf verschiedene Organisationen und Informationsstände. Unter anderem auf den der Milchjugend. Eine Jugendorganisation «von Jugendlichen für Jugendliche», sagt Generalsekretär Max Kranich. Die Milchjugend richtet sich an queere Jugendliche. Schwule, Lesben, Nonbinäre oder junge Transmenschen. Und an alle dazwischen. Unter anderem mit Anlässen, Treffen und einem Magazin.
Es gehe dabei um das Gemeinschaftsgefühl, sagt Kranich. Denn für viele Jugendliche, die sich anders fühlten, sei die Milchjugend mit ihren Anlässen und Treffen oft das erste Mal überhaupt, dass sie irgendwo dazugehörten.
Lou ist nonbinär
Teil der Milchjugend ist auch Lou (23).
Lou ist Nonbinär. Das heisst, Lou lehnt die klare Unterteilung von Geschlecht in Mann/Frau für sich ab.
Nonbinäre Menschen möchten in den meisten fällen weder als Frau noch als Mann angesprochen werden. Das heisst konkret, dass die Pronomen «Er» und «Sie» für Lou nicht zutreffen. Und deshalb wird Lou auch hier nicht als Er oder Sie vorgestellt.
Dazu sei natürlich niemand verfplichtet, meint Lou. Wenn jemand das aber nicht akzeptieren wolle, dann sei das Verhältnis zu dieser Person dann aber logischerweise eher kühl, sagt Lou. Immerhin anerkenne diese Person dann bewusst Lous Identität nicht an. Dabei geht es um eine wichtige Frage: Bin ich bereit, für das wohlbefinden anderer mein eigenes Verhalten zu ändern?
Myshelle Baeriswyl ist trans
Myshelle Baeriswyl (57) ist Fachfrau für Transidentität, Psychologin und Sexualpädagogin. Sie hat selber mehrere Jahrzehnte in der Rolle eines Mannes gelebt. Mit Familie und Kindern.
«Ich versuche, den Menschen bei mir in der Sprechstunde eine positive Botschaft zu vermitteln. Man kann heute als Transperson in der Schweiz leben, es ist nicht dein Untergang. Es wird vielleicht schwierig, aber nicht dein Untergang.» Trotzdem sei der Prozess der Geschlechtsanpassung aufwändig. Dazu gehören viele Behördengänge, Papierkram, und die Abklärung durch die Psychiatrie, dass tatsächlich der sogenannte «Transsexualismus» vorliegt.
Ohne Diagnose können keine geschlechtsangleichenden Massnahmen wie Operationen vorgenommen werden. Denn bis 2020 listet die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Transsexualität noch als psychische Krankheit. Die Änderung im Verzeichnis der WHO ist aber ein grosser Sieg für Transgender-Organisationen weltweit.
Gianna Ferrari ist demisexuell
Sex ist überall, vor allem in unseren Köpfen. Für Menschen wie Gianna Ferrari ist das aber eher unverständlich. Denn Asexualität bedeutet, sich nicht oder wenig auf sexuelle Weise zu anderen hingezogen zu fühlen.
Die Studentin und Aktivistin beschreibt sich selber als Teil des Asexuellen Spektrums. Auf der einen Seite gebe es also die sogenannten Allosexuellen (also die Mehrheit der Bevölkerung) und auf der anderen Seite die komplett asexuellen Menschen, also jene, die keine sexuelle Anziehung zu anderen spüren. Dazwischen, sagt sie, liege ganz viel. Zum Beispiel Demisexualität. Für Demisexuelle wie Gianna Ferrari kann sexuelle Anziehung erst bei einer starken emotionalen Bindung entstehen.
Neben dem asexuellen Spektrum existiert auch noch das aromantische Spektrum. Bei Aromantik verhält es sich ähnlich wie bei Asexualität, nur geht es dabei um romantische Gefühle.
Von der Norm abweichen – aber was ist die Norm?
Die Gesellschaft definiere sich immer wieder neu, sagt Silvia Müri. Sie studierte Geschlechterforschung und Kulturanthropologie und arbeitete als Sozialarbeiterin.
Ich finde es einfach lustig, dass Leute das Gefühl haben, es gäbe einfach eine fixe Vorstellung von Menschsein. Dabei sehen sie nicht, dass wir als Gesellschaft kontinuierlich unser Bild von Normalität anpassen.
Es habe zum Beispiel in der Wissenschaft immer schon Leute gegeben, die in die Sexualität und Geschlechter näher erforschen wollten, sie erhielten einfach kein Geld. «Erst ab 1990, als die WHO Homosexualität nicht mehr als geistige Krankheit verzeichnete, wurden auch vermehrt Forschungsgelder gesprochen. Dadurch landeten sie im wissenschaftlichen Mainstream und die Erkenntnisse kamen durch die Medien zur Bevölkerung.»
So entstand Stück für Stück mehr Wissen und dadurch mehr Akzeptanz in der Bevölkerung, und die politische und rechtliche Situation verbesserte sich. Dieser Prozess hält an und er sei auch schon immer in Gang gewesen, sagt Silvia Müri. «Wenn wir 100 Jahre zurückschauen, sehen wir, die Idee der Kleinfamilie, des Ernährers und die Rolle der Mutter, war damals eine andere als heute.»