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Schweizer Industriekultur - es gibt viel zu erleben
Aus Treffpunkt vom 08.07.2022. Bild: zvg / Museum Neuthal
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Erlebbare Industriegeschichte Einst Arbeitshöllen und Dreckschleudern – heute Ausflugsziele

Das Ruhrgebiet, Deutschlands grösster Industrie-Ballungsraum, ist vom renommierten Reisemagazin National Geographic als eines von 25 Top-Reisezielen ausgezeichnet worden. Einst dreckige Orte, an denen geschwitzt und geschuftet wurde, ziehen heute Touristen an.

Die Schweiz ist nicht Manchester und die Schweiz ist nicht das Ruhrgebiet. Aber auch die Schweiz sei wegen ihrer Industriegeschichte zu dem geworden was sie heute ist. Die Industrie habe das Land und das Selbstverstädnis geprägt, das gehe aber oft vergessen, meint Regula Wyss, Vizepräsidentin des Verbandes Industriekultur und Technikgeschichte Schweiz (Vintes).

Insbesondere die touristische Vermarktung prägte das Bild einer idyllischen, ländlichen Schweiz, mit Kühen und Bergen. Dabei würden sich auch hierzulande viele Freiwillige engagieren, damit das industrielle Kulturerbe nicht in Vergessenheit gerät und authentisch und sinnlich erfahrbar bleibt. Wir stellen drei solche Orte vor:

1. Asphalt aus der Schweiz für die Welt

Was haben die Brunnen des Schloss Versailles mit den Böden des Bahnhofs in New York gemeinsam? Sie wurden mit Asphalt aus dem Val de Travers gebaut. Aphalt, ein Exportgut, welches man heute wohl kaum mehr mit der Schweiz in Verbindung bringt. Doch ab 1771 wurde im Kanton Neuenburg Asphalt abgebaut. Weltweit gibt es nur wenige Orte, wo natürlicher Asphalt gewonnen werden kann. Grosse Vorkommnisse gibt es unter anderem auf Trinidad und in Venezuela.

Asphalt aus dem Val de Travers findet man auf der ganzen Welt.
Autor: Laure von Wyss Direktorin Mines d'Asphalte

Die Asphaltgewinnung war ein Prunkstück der Neuenburger Industrie. Vor dem ersten Weltkrieg war es die grösste Asphaltmine der Welt. 53'000 Tonnen wurden 1913 abgebaut. Und da die Betreiberin der Mine ab 1873 ein englisches Unternehmen war, findet man das elastische, jurassische Gestein im gesamten Common Wealth, zum Beispiel auch in Strassenbelägen auf Neuseeland.

1986 wurde der Betrieb im Val de Travers eingestellt. Zu gross war die Konkurrenz des reineren Naturasphalts aus Trinidad und technisch hergestelltem Asphalt. Die Minen sind seit der Schliessung für die Öffentlichkeit zugänglich. Mit Taschenlampen ausgerüstet könne man die Stollen erkunden und in eine fremde Welt eintauchen, erklärt Laure von Wyss, Direktorin der Asphaltminen.

Anreise und Infos

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Legende: Mines d'asphalte

Die Asphaltminen liegen im Val de Travers im Kanton Neuenburg. Sie sind gut mit dem öffentlichen Verkehr zu erreichen.

In den Sommermonaten sind die Minen täglich geöffnet und es werden zusätzliche Führungen angeboten.

Weitere Infos: www.mines-asphalte.ch

2022 wurde eine neue Austellung eröffnet, in welcher man mit spielerischen und interaktiven Experimenten erfährt, wie Asphalt entsteht und weshalb man das Erdpech, das Kohlenwasserstoffgemisch, ausgerechnet im Val de Travers findet. Die vielleicht grösste Überraschung wird einem aber im dazugehörigen Cafe serviert. Nämlich in Asphalt gekochter Schinken. Ja, richtig gelesen.

«Das Potential der Industriegeschichte wird zu wenig genutzt.»

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Die Historikerin und Ausstellungskuratorin Regula Wyss ist Vizepräsidentin von Vintes, dem Verband Industriekultur und Technikgeschichte Schweiz.

SRF: Wo gibt es denn Industriegeschichte zu erleben?

Wyss: Erstaunlicherweise oft in peripheren Gebieten. Warum? In den Städten gab es einst strenge Zunftregeln. Deshalb zogen zum Beispiel findige Textilunternehmer in St. Gallen schon im 17. Jahrhundert aufs Land, wo sie den Regeln nicht unterstellt waren. Zudem gibt es auf dem Land Gewässer und Gefälle. Man siedelte sich dort an, wo man die Wasserkraft nutzen konnte und auch Arbeitskräfte waren auf dem Land vorhanden.

Verstaubte Maschinen sind langweilig. Wie vermittelt man Industriekultur attraktiv?

Es braucht Maschinen, die laufen und an welchen man etwas ausprobieren kann. Das ist faszinierend. Der Ort muss erlebbar sein. Zudem braucht es Geschichten. So wird die Industriegeschichte anschaulich und man kann sich auf eine gedankliche Zeitreise begeben. Und drittens sollte eine Brücke in die Gegenwart geschlagen werden. Es geht um das Verständnis, warum die Welt heute so ist, wie sie ist.

Ist das nicht eine Romantisierung des einstigen Industriealltags?

Natürlich ist es eine Musealisierung und Romantisierung. Nostalgie schwingt mit. Es ist mit ein Grund, weshalb einige Industriedenkmäler erst jetzt beworben werden. Zu Lebzeiten der Zeitzeugen wäre eine romantische Umdeutung teils nicht möglich gewesen, weil es noch persönliche Erfahrungen an dramatische Tage gab. Ich finde es daher extrem wichtig, dass man auch diese Aspekte erzählt: Die Schattenseiten der Industrialisierung, die Arbeitsbedingungen oder den Feinstaub in der Luft. So realisieren wir auch, wie gut wir es heute haben.

2. Textilindustrie zum Anfassen

Wer Lust auf eine Zeitreise ins 19. Jahrhundert hat, dem sei eine Reise ins Zücher Oberland empfohlen. Ab 1827 und der Eröffnung der Spinnerei entstand in Neuthal ein Industrieensemble, das in seiner Authentizität mit Fabrikgebäuden, Wasserkraft- und Parkanlagen in der Schweiz heute einmalig ist. 1964 wurde der Betrieb der Weberei eingestellt.

Es ist eine authentische Zeitreise ins 19. Jahrhundert und die Textilindustrie, welche einen Grundstein für den Schweizer Wohlstand gelegt hat.
Autor: Nora Baur Leiterin Museum Neuthal

Doch: Die Maschinen funktionieren noch heute. Von der rohen Baumwolle bis zum fertigen Faden könne man alle Produktionsschritte mitverfolgen. Das gebe es sonst nirgendwo im deutschsprachigen Raum. Der ganze Textilindustriekomplex mit Spinnerei, Weberei, Stickerei und den Wasserkraftanlagen sei noch vollständig erlebbar, sagt Museumsleiterin Nora Baur. Dies auch dank über hundert engagierten Freiwilligen, welche oft selbst in der Textilindustrie gearbeitet hatten und heute das Wissen weitervermitteln würden.

Textilien seien uns sehr nahe, erklärt Museumsleiterin Baur. Wir alle tragen welche. Doch woher stammen diese? Bei der Herstellung von Kleidern gehe es damals wie auch heute um globale Wirtschaftsverflechtungen. Man sei als Textilmuseum verpflichtet auch darauf ein Augenmerk zu legen und sich mit Fragen der Gegenwart auseinanderzusetzen. Aktuell kann man in einer Sonderausstellung mehr über die verschiedenen Textilrohstoffe erfahren.

Anreise und Infos

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Legende: Museum Neuthal

Das Museum Neuthal und das Café sind von Mai bis Oktober jeweils Sonntags von 10-16 Uhr geöffnet. Führungen für Gruppen sind ganzjährig buchbar.

Die Dampfbahn fährt am 1. und 3. Sonntag im Monat. Nebst der Anreise mit dem öffentlichen Verkehr empfiehlt sich auch eine Wanderung bis zum Museum auf dem Industriepfad von Bauma aus (ca. 40 Minuten).

Weitere Infos: www.industriekultur-neuthal.ch

In der Industriekultur stecke noch viel touristisches Potential, ist Nora Baur überzeugt. In der Schweiz sei man sich noch zu wenig bewusst, dass man auch ein Pionier der Industrialisierung gewesen sei, inklusive aller Schattenseiten für die ländliche Bevölkerung. Die Lage in der Natur mache die ehemaligen Industrieorte aber heute nicht nur zu spannenden, sondern auch schönen Ausflugszielen.

3. Die einst grösste Schuhfabrikation der Welt

Was heute vielleicht «On» ist, war früher «Bally». Der Schweizer Schuh, den die ganze Welt an den Füssen trägt, damals aber noch «made in Switzerland». Schönenwerd im Kanton Solothurn war einst der Hotspot der globalen Schuhproduktion, dank Bally. In den goldenen Zeiten waren bis zu 7500 Personen angestellt. Man war führend in der Mode und führend in technischen Aspekten der Fabrikation.

Man sieht sie, man hört sie, man riecht sie. Die Maschinen laufen. Es ist das Gegenteil eines langweiligen Museums.
Autor: Philipp Abegg Präsident Ballyana-Stiftung

14'000 Paar Schuhe konnten pro Tag produziert werden. Um das Jahr 1900 sei das ein absoluter Rekord gewesen, erzählt Philipp Abegg. Er ist der Präsident der Stiftung Ballyana, die sich für den Erhalt des Kulturerbes der Region einsetzt. Denn 2001 hat die Schuhmarke Bally Schönenwerd verlassen. Damit endete eine fast 200 jährige Industriegeschichte, die 1820 mit der Produktion von Bändern begonnen hatte.

Nur in einer Produktionshalle rattert es auch noch heute. Im Ballyana Museum kann man heute in authentischer Atmosphäre in die Industriegeschichte eintauchen. Diverse noch funktionierende historische Webmaschinen, die älteste Sulzer Dampfmaschine der Schweiz und Maschinen aus der Schuhfabrikation können nach wie vor zum Laufen gebracht werden.

Anreise und Infos

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Legende: Ballyana

Die ehemaligen Produktionshallen von Bally und die Austellung der Stiftung Ballyana befinden sich in Schönenwerd im Kanton Solothurn. Der Bus hält in unmittelbarer nähe.

Die Ausstellung ist jeden 1. und 3. Sonntag des Monats von 14.00 bis 17.00 Uhr geöffnet. Auf Voranmeldung sind Führungen auch ausserhalb der Öffnungszeiten möglich.

Der Bally-Park in Schönenwerd, den Carl Franz Bally, Gründer der Bally-Schuhfabriken, ab 1868 im Stile eines englischen Gartens als Erholungsraum für seine Arbeiter errichten liess, ist rund um die Uhr öffentlich zugänglich.

Weitere Infos: www.ballyana.ch

Fachkundige Freiwillige erklären die Funktionen. Zudem können diverse Fabrikate angefasst werden, was insbesondere auch für Kinder attraktiv sei. Ein Besuch ermöglicht den Blick in die Vergangenheit hilft die Gegenwart zu verstehen und Hoffnungen in die Zukunft zu setzen, meint Präsident Abegg. Die Schweizer Industriegeschichte berge noch ein grosses Potential.

Onlineangebote für Schweizer Industriekultur

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  • Mit der Plattform «Swiss Industrial Heritage» möchte der Verband Industriekultur und Technikgeschichte Schweiz (Vintes) den musealen und touristischen Angeboten der Technikgeschichte mehr Sichtbarkeit geben.
  • Auf Industriekultur.ch macht die Schweizerische Gesellschaft für Technikgeschichte und Industriekultur die wichtigsten Zeugen der industriellen Vergangenheit sichtbar. Es ist ein Inventar der Denkmalpflege mit rund 5500 erfassten Seiten.
  • Der Verein Industriekultour bezweckt die Vernetzung und die Vermarktung des industriellen Kulturerbes der Schweiz und die Sichtbarmachung der touristischen Angebote. Hierunter fallen auch umgenutze Industrielocations, Angebote der Gastronomie und Hotellerie.
  • Auch Schweiz Tourismus preist auf seiner Website Angebote an, bei welchen das Erbe des Schweizerischen Industriezeitalters entdeckt werden können.

Radio SRF 1, Treffpunkt, 8. Juli 2022, 10:03 Uhr;

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