Im Gazastreifen gibt es nur noch ein Geburtskrankenhaus. Es platzt aus allen Nähten. Ausgerichtet wäre das Spital in Rafah auf zwanzig Geburten pro Tag. Heute seien es im Schnitt täglich 100 Babys, weiss Hebamme Anja Bezold. Für die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen war sie bis vor drei Wochen in Rafah im Süden des Gazastreifens.
SRF: Wie haben Sie die Lage in Rafah wahrgenommen?
Anja Bezold: Es sind dort sehr viele - viel zu viele - Menschen auf engstem Raum. Das habe ich noch nie erlebt. In einer Stadt, wo normalerweise 300'000 Personen leben, sind inzwischen 1,5 Millionen Menschen. Sie wohnen in Zelten und unter Planen.
Kinder werden auch auf dem Fussboden des Spitals geboren.
Das kann man sich im Vorfeld gar nicht vorstellen. Menschen sind wirklich überall und das wirkt sich auf alle Bereiche aus, auch auf das Spital.
Wie ist die Situation dort?
Es platzt aus allen Nähten. Viele Menschen suchen im Spital auch einfach Zuflucht. Das Personal arbeitet rund um die Uhr, aber kommt nicht hinterher. Frauen, die zur Geburt wollen, kommen zum Teil gar nicht bis zum Kreisssaal durch.
Dementsprechend kommen auch nicht alle Kinder dort zur Welt?
Teilweise werden Kinder tatsächlich auf dem Fussboden des Spitals geboren. Das ist natürlich keine schöne Situation. Auch fehlen die Kapazitäten, die jungen Mütter danach zu betreuen.
Die meisten mussten direkt nach der Geburt entlassen werden. Das war der Punkt, wo Ärzte ohne Grenzen dann eingesprungen ist.
Was war ihre Rolle?
Wir haben eine Wochenstation aufgemacht, mit 26 Betten. In dieser haben wir Frauen nach der Geburt betreut. Damit sie nicht direkt nach Hause müssen, respektive in ihre Zelte oder unter ihre Planen.
Frauen müssen ihre Neugeborenen stillen können. Alles andere wäre der sichere Tod für die Babys.
Auch konnten wir so schauen, dass mit den Babys und mit den Müttern so weit alles in Ordnung ist nach der Geburt.
Wie geht es den Müttern?
Viele sind natürlich hochgradig traumatisiert. Sie wurden schon mehrfach vertrieben. Ihre Männer sind teils verschollen. Sie wissen nicht, wo es hingehen soll. Dieser Stress führt zu vielen Frühgeburten.
Die Neonatologie ist übervoll. Bis zu drei Babys liegen in einem Inkubator. Es sind Frühgeborene, aber auch Kinder, die zurück ins Spital verlegt wurden, weil sie mangelernährt sind. Die Ärztinnen dort wissen gar nicht, wie sie sich um alle kümmern sollen. Das ist wirklich eine ganz furchtbare Situation.
Was ist das Wichtigste, das Sie den jungen Müttern mit auf den Weg geben konnten?
Das Wichtigste ist tatsächlich, dass die Frauen stillend nach Hause gehen. Auch wenn sich das einige vielleicht anders ausgemalt hätten. Sie müssen verstehen, dass ihre Babys die Muttermilch brauchen. Alles andere wäre momentan der sichere Tod für die Kinder. Künstliche Babynahrung ist nicht erhältlich im Gazastreifen. Und selbst wenn, bräuchte es für die Zubereitung sauberes Wasser.
Wie haben die Frauen auf Ihre Anwesenheit reagiert?
Die Patientinnen waren sehr dankbar. Sie schätzten es, dass Menschen aus anderen Ländern zu ihnen kommen, um zu helfen. Das Gefühl, nicht komplett vergessen zu sein. Das war dann auch eine unserer grössten Aufgaben – für die Frauen da zu sein, ihnen zuzuhören und für einen Moment ihr Leid zu teilen.
Was wäre Ihr grösster Wunsch?
Natürlich, dass dieser Krieg so schnell wie möglich zu Ende geht. Und sonst wenigstens eine Waffenruhe, damit Hilfsgüter ins Land kommen können. Die Menschen müssen mal durchatmen können. Und dann können sie vielleicht auch ihre Kinder mal für ein paar Wochen ohne Angst auf die Welt bringen. Das wäre mein grösster Wunsch.
Das Gespräch führte Fabio Flepp.