Kürzlich reiste ich ins Tessin. Als ich im Basistunnel an die schwarze Wand blickte, überlegte ich mir: «Was ist jetzt eigentlich da oben los, entlang der alten Bergstrecke?». Darum entschloss ich mich auf dem Rückweg in die Deutschschweiz oben rüber zu fahren.
In Bellinzona steige ich in den Regionalzug. Es ist eine Art S-Bahn, wie man sie auch aus den Agglomerationen von Bern oder Zürich kennt. Flacher Einstieg, grosse Fenster und ruhig. Die grosse Änderung auf Tessiner Seite: Der Zug hält neu auch an den wiedereröffneten Bahnhöfen von Bodio, Lavorgo und Ambri-Piotta.
1.
Lavorgo – Endlich Ruhe
In Lavorgo treffe ich die Hoteliers Cesare und Sandra Defanti. Ihr Hotel liegt direkt an den Gleisen der Gotthard-Bergstrecke. Die Gastgeber freuen sich über den wiedereröffneten Bahnhof und vor allem über die neue Ruhe. Der Basistunnel, der habe nur Vorteile gebracht.
Endlich kann ich meine Gäste fragen, ob sie gut geschlafen haben. Früher hatte ich Angst vor dieser Frage.
Auch das Dorf profitiere. Viele Bewohner der Bergdörfer seien zu Pendlern geworden, erzählt Cesare Defanti. Ihre Fahrzeuge parkierten sie am Bahnhof.
2. Faido - Enttäuschung
In Faido fallen mir die prunkvollen Gebäude auf. Die Farbe blättert von den Wänden. Es sind ehemalige Hotels. Während der Belle Epoque, vor 1914, sei Faido teurer als St. Moritz gewesen und «the place to be» für die Mailänder Noblesse. Dies erzählt mir Daniele Zanzi. Er ist Animatore bei der Gemeinde und zuständig für Kultur, Sport und Tourismus.
Grosse Hoffnungen habe man gehabt, dass das kantonale naturhistorische Museum diesen Gebäuden und dem Bahnhof neues Leben einhauchen könnte. Doch just zum Weihnachtsfest habe man den negativen Vorentscheid vom Kanton erhalten und sei dementsprechend enttäuscht, sagt Zanzi. Die Hoffnung habe man noch nicht aufgegeben. Er arbeite an einem Plan B.
3.
Ambri-Piotta - Neues Leben
Ambri-Piotta? Eishockey? Tote Hose? Ich habe nicht viel erwartet und wurde überrascht. Ich stehe auf einem belebten Bahnhofsplatz, voller mediterraner Lebensfreude. Diese hat Ambri den zwei Sizilianern Franco LoVoi und Oriana Garbeni zu verdanken. Vor drei Jahren zogen sie aus Interlaken nach Piotta. Sie hätten einen Ort näher zu Italien gesucht, wo ihr Sohn sicher aufwachsen könne.
Die Bevölkerung hat Lust, dieses Dorf wiederzubeleben. Und ich bin stolz ein Teil davon zu sein.
Vor zwei Jahren erfuhren sie, dass der Bahnhof wiedereröffnet wird und packten die Chance. Im ehemaligen Kiosk haben sie ein Bistro eröffnet und so einen Treffpunkt für die Bevölkerung geschaffen. Das Tal habe ein grosses Potential, schwärmt LoVoi.
4. Airolo – Basistunnel als Weckruf
In Airolo freut man sich bereits auf das nächste Loch – die zweite Autobahnröhre. Der Basistunnel sei für Airolo ein Glücksfall gewesen. Er habe die Bevölkerung wachgerüttelt, erzählt Francesca Pedrina. Sie ist Raumplanerin und Gemeinderätin von Airolo. Sie hätten gewusst: «Jetzt oder nie ist für Airolo der Zeitpunkt, eine neue Zukunft zu schaffen.»
Die Zukunft Airolos soll grün sein. Francesca Pedrina nimmt mich mit zur Autobahn. Im Sekundentakt brausen hier Auto und LKWs über die A2. Seit vierzig Jahren teilt diese das Gemeindegebiet in zwei. Nun soll mit dem Aushubmaterial des Autobahntunnels der Talboden aufgeschüttet und die Autobahn überdacht werden. Kanton und Bund teilen sich die Kosten. Francesca Pedrina zeigt mir eine Postkarte ihres Airolos der Zukunft: Idylle pur, von der Autobahn keine Spur.
5. Wassen – Tote Hose
Korrekt, in Wassen hält der Zug nicht. Doch als ich mit Vorfreude aufs «Chileli von Wassen» aus dem Fenster blicke, sehe ich einen Mann neben dem Gleis, der unserem Zug nachschaut. Ich will wissen, wer er ist. Mit dem Bus reise ich von Erstfeld zurück.
Die Güterzüge waren Musik in meinen Ohren. Heute ist es hier langweilig.
Bahnfan Xaver Andermatt hatte sich einen Traum erfüllt. Direkt an der Bergstrecke und mit Blick auf die berühmte Kirche von Wassen hat er sich ein ehemaliges Bahnwärterhaus gekauft. Von seinem «Adlerhorst», wie er sein Zuhause nennt, sieht er die Züge dreimal.
Respektive sah er sie dreimal. Denn seit der Eröffnung des Basistunnels sei es hier «tote Hose». Die ruhigen Regionalzüge seien keine richtigen Züge. Er bezeichnet sie als Trams.
6. Erstfeld – Zukunft = Vergangenheit
Erstfeld war das Bähnlerdorf schlechthin. Von hier wurden die schweren Güterzüge über die Bergstrecke gefahren. Zu besten Zeiten lebten und arbeiteten in Erstfeld rund 250 Lokführer.
Und auch heute setzt man hier, zumindest touristisch, weiterhin auf die Bergstrecke. Ich treffe Pia Tresch, die Gemeindepräsidentin. Sie sagt, in diversen Workshops habe man über die zukünftige Ausrichtung Erstfelds gebrütet. Man kam zum Schluss: Das Einzigartige an Erstfeld, das was sonst niemand habe, das sei die Gotthard-Bergstrecke. Ihre Vision sei ein Erlebnispark auf den ungenutzten Gleisanlagen.
Touristisch profitiere man im Urnerland auch vom Basistunnel. Denn dieser habe dem Urnerland die längste Orgelpfeife der Welt geschenkt. Und die müsse ich unbedingt erleben, meint die Gemeindepräsidentin von Erstfeld.
7. Amsteg: Der Kreis schliesst sich
Und so wandere ich zum Schluss meiner Erkundungstour mit Gästeführer Max Gisler in den ehemaligen Zugangsstollen in Erstfelds Nachbardorf Amsteg. Am Ende des Stollens, im sogenannten Tunnelfenster, steht man hier, geschützt von einer Glaswand, im Basistunnel. Die Züge, die hört man aber schon viel früher. Sobald diese beim Südportal in den Tunnel fahren, stossen sie eine Luftsäule vor sich her. Und dieses Pfeifen, das hört man in Amsteg, je nach Wetterlage, mit einer anderen Melodie. Wenige Meter vor mir rast ein ICN durch den Basistunnel.
Auch ich sass in so einem Zug, als ich ins Tessin reiste. Das Tunnelfenster hatte ich nicht gesehen. Die Orgelklänge nicht gehört. Aber wer weiss, vielleicht sitzt in diesem Zug ja auch eine Person, die sich überlegt, wiedermal oben rüber zu fahren.
Reporter Fabio Flepp auf Spurensuche
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Für die Sendung Doppelpunkt von Radio SRF 1 reiste Reporter Fabio Flepp durch den Basistunnel und über die früher bekannte Bergstrecke zurück.
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