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Integration der Italiener «Mein Zuhause ist die Schweiz, aber meine Heimat ist Italien»

Italiener kamen einst zahlreich und als willkommene Arbeitskräfte in die Schweiz. Gleichzeitig wehte ihnen ein rauer Wind ins Gesicht. Sie wurden als «Tschinggen» beschimpft und als «Überfremdungsgefahr» wahrgenommen.

Integration ist immer eine persönliche Geschichte und kann so oder anders verlaufen. Auch ist entscheidend, in welcher Zeit jemand in die Schweiz kommt. So war es auch bei den Italienerinnen und Italienern der 60er- und 70er-Jahre. Die persönliche Integration verlief nicht immer geradlinig.

Es machte auch einen Unterschied, ob jemand vom eher akzeptierten Norden oder vom kritisch beäugten Süden Italiens kam. Interessant sind auch die Fragen: Wie viel Italien bleibt einem als Secondo, als Seconda und wie viel Schweiz kommt hinzu? Bleibt man in der Schweiz vor allem unter Seinesgleichen oder gewinnt man auch Freunde aus der Schweiz und aus anderen Nationen? Wie stark kann man sich von den Regeln der Kernfamilie, die von der italienischen Kultur geprägt sind, emanzipieren, um neue Regeln des Gastlandes Schweiz zu integrieren?

Silvia Dell'Aquila (42), die Forsche, die sich komplett ins politische und institutionelle System der Schweiz eingliederte.

Aufgewachsen in Lenzburg (AG), in einer starken Italo-Community, liess sie sich mit 20 einbürgern, studierte Soziologie und aktuell Rechtswissenschaften, arbeitet als Regionalleiterin beim VPOD und ist am Arbeitsgericht und in der Schlichtungskommission tätig. Als Mitglied der SP sass sie im Aarauer Einwohnerrat und kandidierte erfolglos für den Stadtrat, allerdings mit einem Achtungserfolg.

Rassismus hatte sie früher am eigenen Leib gespürt. Das Wort «Tschingg» bleibt für sie ein hässliches Schimpfwort, auch wenn es heute da und dort sogar Kultstatus geniesst.

Porträt Silvia Dell'Aquila
Legende: Silvia Dell'Aquila (42), Aarau «Meine Eltern planten ständig die Rückkehr nach Italien. Ich war lange Jahre fremd in beiden Welten.» SRF/Jürg Oehninger

Antonio Capuzzi (58), der Selbstverteidiger, der sich über viele Jahre hinweg eine Schutzmauer gegen rassistische Anfeindungen aufgebaut hat.

Illegal als «Schrankkind» in die Schweiz gekommen, musste er sich die ersten Lebensjahre zu Hause verstecken, bis Nachbarn die Familie verpfiffen. Dank einem umsichtigen und gesellschaftlich einflussreichen Patrons des Vaters, musste die Familie nicht ausreisen und der Status der Familie wurde legalisiert. Diese Geschichte hinterliess Spuren. Früher wehrte sich Antonio Capuzzi gegen rassistische Hänseleien und Konflikte mit den Fäusten. Später hängte er sich mit intensivem Kampfsporttraining einen Schutzmantel um, der ihn psychologisch stärkte. Nach einer langen Karriere in der Versicherungsbranche, ist er heute seit ein paar Jahren Hypnotiseur mit eigener Praxis. Er ist integriert, aber auf dem Papier Italiener geblieben.

Antonio Capuzzi in seiner Praxis
Legende: Antonio Capuzzi (58), Hypnosetherapeut Aarau «Immer wenn es an der Türe geläutet hatte, musste ich mich im Schrank verstecken.» SRF/Jürg Oehninger

Maurizio Robucci (48), der Italo-Schweizer, der die Schweiz als sein Zuhause, aber nicht als seine Heimat erlebt.

Nach einer eher mässigen Schulkarriere sowie nach ein paar Jahren als Autolackierer, Baumaler, Fabrikarbeiter und Temporär-Aushilfe, ging ihm der berühmte Knopf auf. Weil er schon früh als Fussballtrainer angefangen und gemerkt hatte, dass er gut mit Kindern und auch mit deren Eltern umgehen konnte, stieg er beruflich in die Sozialarbeit ein, studierte Sozialpädagogik und half dann Jugendlichen mit schwierigem Hintergrund beim Einstieg ins Berufsleben. Heute arbeitet er für die Berufsintegration von Erwachsenen. Er leitet ein Programm mit Langzeitarbeitslosen mit Migrationshintergrund. Zudem betreibt er zusammen mit seiner Frau ein italienisches Bistro, das «Petite Italie» in Aarau.

Das die soziale und berufliche Integration im Gastland schwierig sein kann, hat Maurizio Robucci am eigenen Leib erlebt und ist unter anderem auch darum ein versierter Berater in diesem Bereich.

Zwei Männer unterhalten sich an einem Bistro-Tisch
Legende: Maurizio Robucci (48), Aarau SRF-Redaktor Jürg Oehninger interviewt Maurizio Robucci: «Meine Emotionen für Italien sind stärker als für die Schweiz.» SRF/Jürg Oehninger

Pietro Scalia (58), der ausgewanderte Secondo, der auf dem Weg zu seiner beruflichen Erfüllung die Schweiz verloren hat und für den die Schweiz damit nur ein Zwischenhalt war.

Pietro Scalia hat in Hollywood Karriere gemacht. Seit vielen Jahren arbeitet er als Editor, als Cutter in der Filmindustrie und immer wieder auch mit namhaften Regisseuren zusammen. Zweimal bekam er einen Oscar für den besten Filmschnitt. Zusammen mit seiner Familie, wohnt er in Los Angeles.

Pietro Scalia ist in den 60er- und 70er-Jahren in Aarau aufgewachsen. Seine Liebe zum Film katapultierte ihn weg von der Schweiz, obwohl er gar nicht vorhatte, von der Schweiz weg zu gehen. Heute schlagen drei Herzen in seiner Brust, wobei die Schweiz tendenziell am weitesten weg ist. Auf dem Papier ist Scalia Italiener geblieben und Amerikaner geworden.

Oscar-Preisträger Pietro Scalia, mit der Oscar-Auszeichnung in der Hand 2002
Legende: Pietro Scalia (58), Pacific Palisades, Los Angeles «Ich bin in Aarau aufgewachsen. Ich hatte eine gute Zeit, aber es war als Italiener trotzdem nicht immer einfach.» Keystone / Doug Mills

Die Integration - der Blick aus heutiger Sicht

Die Italiener sind schon eine gefühlte Ewigkeit heimisch in der Schweiz. Sie sind integriert und fallen kaum mehr auf. Im Rückblick erscheint ihre Integration problemlos verlaufen zu sein. Der Staat Italien half mit Geld für Tagesschulstrukturen, Krippen und Aufgabenhilfen, ihre Landsleute in der Schweiz zu integrieren. Die italienischen Immigranten brachten italienische Kultur in die Schweiz: Esskultur, Musik, die Vespa und eine Art zu leben, die das Dasein etwas beschwingter macht.

Die Integration - wie sie wirklich war

Allerdings verlief diese Integration nicht reibungslos. Die Schweiz holte viele Italiener als Arbeitskräfte mit Saisonnierstatus ins Land. Das heisst, sie durften neun Monate ohne Unterbruch arbeiten, mussten dann aber für drei Monate das Land verlassen. Und ihre Familien durften sie erst nach ein paar Jahren mitnehmen. Dieser jeweils auf Jahre hinaus verhinderte Familiennachzug zerriss Familien für Jahre, liess Ehen scheitern und produzierte tausende von sogenannten «Schrankkindern», von traumatisierten Kindern, die sich illegal in der Schweiz aufhielten und sich versteckt halten mussten.

Italiener wurden in der Schweiz auch jahrzehntelang mit Überfremdungsängsten der Bevölkerung konfrontiert. In einer latent ausländerfeindlichen Stimmung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, sah man in ihnen die Kriminellen und sie wurden als «Tschinggen» und «Marronifresser» beschimpft. Väter warnten ihre Töchter vor den Verführungskünsten der heissblütigen, italienischen jungen Männer.

«Wir wurden früher so gesehen, wie man heute Albaner und Kosovaren sieht»

Tempi passati: Italiener sind heute selbstverständlicher Bestandteil der schweizerischen Gesellschaft. Rassistische Töne erleiden heute andere Menschen; aus den Balkanländern oder aus Afrika. «Wir wurden früher so gesehen, wie man heute Albaner und Kosovaren sieht», sagt zum Beispiel Silvia Dell'Aquila, die als Italienerin der zweiten Generation in Aarau lebt. Die Geschichte wiederholt sich.

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