Zum Inhalt springen

Leben mit Behinderung Der Weg zur Selbstbestimmung ist noch weit

Alle Menschen sollen das gleiche Recht haben, selbstbestimmt am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Je nach Blickwinkel wurde in der Schweiz schon einiges dafür getan oder noch viel zu wenig. Es gibt noch Hürden.

Die UNO Behindertenrechtskonvention fordert: Alle Menschen sollen das gleiche Recht haben, selbstbestimmt am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Die Schweiz unterzeichnete diese Konvention 2014. Im Jahre 2018 gibt es aber immer noch Hürden.

Jasmin Rechsteiner (37) aus Bern ist mit einer Mehrfachverkrümmung der Wirbelsäule auf die Welt gekommen. Damit sich die Wirbelsäule nicht noch mehr verkrümmte, hatte man ihr in ihrer Jugendzeit ihr Körperwachstum künstlich gestoppt. Mehrere Operationen waren notwendig, damit der Rücken stabil wurde und sie heute - mit gewissen Einschränkungen - frei atmen kann.

Jasmin Rechsteiner in ihrem Lieblingsrestaurant, in ein Gespräch vertieft
Legende: «Dank medizinischer, technischer und finanzieller Hilfe kann ich relativ selbstbestimmt leben.» (Jasmin Rechsteiner) SRF / Jürg Oehninger

Trotz aller Einschränkungen bewegt sich die zierliche 1,33 m grosse Frau relativ agil. Und dank eines Elektrorollstuhls sowie eines extra für sie umgebauten Autos kann sie sich relativ problemlos in der Öffentlichkeit bewegen. «Mir ist meine Selbstständigkeit wichtig», sagt Jasmin Rechsteiner.

Meine grosse Amerikareise war sehr aufwendig. Aber es hat sich gelohnt. Sie bleibt mir in eindrücklicher Erinnerung.
Autor: Jasmin Rechsteiner, Bern Ist unterwegs auf einen Rollstuhl angewiesen

Selbstständig und auch selbstbestimmt zu leben, bedeutet für Menschen mit einer Behinderung auch einen grossen Aufwand. Jasmin Rechsteiner erzählt eindrücklich, was es für sie bedeutet nach Amerika zu reisen.

Ferien nach dem Lustprinzip

Sein Leben weitgehend selber bestimmen, ist für Menschen mit körperlicher oder geistiger Beeinträchtigung heute noch keine Selbstverständlichkeit. Im Reit- und Ferienhaus Schossrüti in der Gemeinde Langnau im Emmental ist das anders. Dort verbringen geistig beeinträchtigte Menschen regelmässig Reit- und Freizeitwochen. Eine Ferienwoche im Oktober stand unter dem Motto «Fit und Zwäg», Reiten im Gelände und auf Geschicklichkeitsparcours, Fitness für Ross und Reiter.

Eine Teilnehmer mit ihrem Pferd auf einem Geschicklichkeitsparcour
Legende: Die Teilnehmenden bestimmen teilweise - und im Rahmen ihrer persönlichen Möglichkeiten - selber, wie das Ferienprogramm abläuft. SRF / Jürg Oehninger

Diese Art von Ferien für Menschen mit Behinderung gelten als vorbildlich, weil sie zur Mitbestimmung einladen und Mitsprache ermöglichen. Sport ist ein ideales Feld für die Selbstbestimmung. Im Sport zählt immer das persönliche Leistungslevel, unabhängig davon, welche Gründe hinter einer besseren oder schlechteren Leistung steh.

Porträtbild eines Teilnehmers, mit Reithelm
Legende: «Fitness war Thema für Reiter und Pferd. Wir Menschen machten Gleichgewichtsübungen und den Pferden haben wir die Gelenke gelockert.» (Philip Furrer, Teilnehmer) SRF / Jürg Oehninger

Vielfalt ist die neue Norm

Menschen mit körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen sind oft auf menschliche Hilfe, technische Hilfsmittel und finanzielle Unterstützung angewiesen. Das befähigt sie, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen; im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Das reicht aber nicht. Damit dies vollständig gelingt, ist Mitbestimmung heute zentral.

Früher war das ganz anders. Da waren Menschen mit Behinderung eher «Objekte der Versorgung», erklärt Peter Wehrli, Geschäftsleiter Zentrum für selbstbestimmtes Leben.

In der Stiftung Schürmatt in Zetzwil (AG) werden Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene schulisch und beruflich gefördert. Ziel ist eine grösstmögliche Selbstständigkeit, die den geistig behinderten Menschen zu einer Arbeit ausserhalb einer geschützten Werkstatt verhilft und zum selbstständig Wohnen, zum Beispiel in einer WG. «Die Arbeitsstellen für diese Menschen in der Privatwirtschaft sind allerdings dünn gesät», sagt Werner Sprenger, Direktor der Stiftung Schürmatt. «Es braucht die Bereitschaft, diese Menschen in einen Betrieb aufzunehmen.»

Das Paradigma der Inklusion ist visionär

Steht heute die Idee der Inklusion im Zentrum, so war es früher das Prinzip der Integration: Menschen mit Beeinträchtigung sollen durch Fördermassnahmen in die normale Gesellschaft integriert werden. Inklusion meint dagegen echte Teilhabe und Selbstbestimmung. Das Ziel ist nicht die Eingliederung von Ausgegrenzten. Da alle Menschen gleichwertig sind, mit allen ihren Fähigkeiten und Defiziten, muss niemand integriert werden, weil alle bereits dazu gehören. Inklusion ist ein gesellschaftspolitischer Ansatz und bezieht sich auf sämtliche Lebensbereiche wie Wohnen, Arbeit, Bildung und Freizeit. Er bezieht sich nicht nur auf Menschen mit Beeinträchtigungen, sondern auf alle Menschen, unabhängig von ihren Fähigkeiten, von ihrem Alter und Geschlecht oder ihrer ethnischen, kulturellen oder sozialen Herkunft.

Dieses Prinzip ist visionär und wirft gängige gesellschaftliche Normen um. Normal ist nun die Vielfalt, dass jeder Mensch unterschiedlich ist. Ein Mensch ist damit nicht mehr gezwungen, nicht erreichbare Normen zu erfüllen. Die Gesellschaft schafft Strukturen, die dies ermöglichen.

Meistgelesene Artikel