Vor genau 60 Jahren hat der Wiener Autor H.C. Artmann mit seinen Mundartgedichten die moderne Lyrik revolutioniert. Jetzt publiziert der österreichische Autor Michael Stavaric einen grossartigen Gedichtband auf Wienerisch, der direkt an diese Tradition anschliesst.
Zum Lesen sind diese Gedichte manchmal wie ein Rätsel, denn Stavaric schreibt die Wörter radikal nach der Aussprache und kümmert sich wenig um das gewohnte Schriftbild. Glücklicherweise hat der Autor jeweils eine hochdeutsche Übersetzung verfasst und neben das mundartliche Original gesetzt.
Gapiden wern
So erkennt man zum Beispiel, dass «zum gapiden wern» zum Kapitän werden heisst und dass «a bamscher» eine Baumschere ist. Der Vorteil dieser Schreibung: Man hört den Ur-Wiener, die Ur-Wienerin geradezu aus dem Schriftbild herausreden.
Traurige Gestalten mit Galgenhumor
Es sind eher traurige Gestalten, die diese 86 Gedichte prägen.
Das Morbide, das man den Wienern so gerne nachsagt, bekommt viel Raum. Aber der Tod ist nicht «der deutsche Schnitter», meint Stavaric im Gespräch. Der Tod ist in Wien zwar ein grauslicher Kumpan, aber auch einer, der halt zum Leben gehört, den man akzeptiert und auch mal beschimpfen darf:
ge weida do gibts nix zum seng
glozz net so ongrird
mit deine sens
jo echt?
des soll a sens sain?
do hob jo i an lengarn
Deutsche Übersetzung
geh weiter
hier gibt's nichts zu sehen
glotz nicht so mürrisch
mit deiner sense
ja echt?
das soll eine sense sein?
da hab ja ich einen längeren
Mundartoriginale sind brutaler
Die hochdeutschen Versionen der Gedichte sind meistens nicht wörtliche Übersetzungen aus dem Dialekt. Die Mundartversionen sind in aller Regel deutlich brutaler. Das sei gewollt, denn die Leser sollen sich selber Gedanken zu einer adäquaten Übersetzung machen. Und ausserdem, meint Stavaric, wirke auf Hochdeutsch oft kitschig, was im Dialekt problemlos gehe.