Laut vielen Grammatiken (und Dialektbewahrern) gibt es im Schweizerdeutschen nur zwei grammatische Zeiten: Präsens («I schaffe i de Fabrik.») und Perfekt («I ha i de Fabrik gschaffet.»).
Zukünftiges werde mit dem Präsens und einer mehr oder weniger exakten Zeitangabe ausgedrückt: «I schaffe ab nächscht Wuche i de Fabrik.» Oder mit Umschreibungen wie «Ich gange i d Fabrik go schaffe.» oder «Ich chume i d Fabrik cho schaffe.»
Immer mehr «i wirde»
Aber wer keine Tomaten auf den Ohren hat, hört sie täglich: Schweizerdeutsche Futur-Formen mit «werden» («I wirde i de Fabrik schaffe.»). Das müssen auch Dialektnostalgikerinnen zugeben.
Das «werden»-Futur ist – wie so vieles – eine Übernahme aus dem Hochdeutsch. Offensichtlich geht das aufgrund der grammatischen Ähnlichkeit zum Schweizerdeutsch problemlos. Das sind die möglichen Gründe für das Aufkommen des «werden»-Futurs in der Mundart:
- Hochdeutsch-Kompetenz: Die meisten Schweizerdeutschsprachigen lesen und (vor allem) hören und schreiben heute deutlich mehr Hochdeutsch als noch vor einigen Jahrzehnten. Auch die Dauer der Ausbildung und damit die Kompetenz in der Standardsprache ist im Durchschnitt gestiegen. Das hochdeutsche «werden»-Futur ist den meisten vertraut und geläufig.
- Spontan-Übersetzungen: Wenn Politikerinnen, Vereinspräsidenten oder auch andere eine Rede auf Schweizerdeutsch halten, haben sie dafür oft eine Vorlage auf Hochdeutsch, von der sie den Text ablesen und spontan in die Mundart übersetzen. Dabei werden «werden»-Futur-Konstruktionen oft übernommen, weil die Zeit kaum reicht, um sie noch umzuformen.
- Zweitsprachige: Dazu kommen mehr Menschen mit einer anderen Muttersprache als Schweizerdeutsch. Ihre Mundart ist oft stärker vom Hochdeutschen beeinflusst als jene von Schweizerdeutsch-Muttersprachlern.
- Etablierte «werden»-Konstruktionen: Im «alten» Schweizerdeutsch gibt es zwar kein Futur, aber durchaus andere Konstruktionen mit «werden» als Hilfsverb: «Si wird Lehrerin.», «I wirde enterbt.» oder «Du wirsch lache!» – alle auch schon mit einer Art Veränderung oder gar Zukunftsbezug. Diese Formen dürften dem «werden»-Futur den Weg ins Schweizerdeutsche bereitet haben.
- Einfach und eindeutig: Und schliesslich ist das «werden»-Futur auch einfach bestechend simpel und eindeutig. Man muss nur das bereits bekannte «wärde» mit dem Infinitiv des jeweiligen Verbs kombinieren – und schon ist klar, dass ich über die Zukunft spreche: «I wirde i de Fabrik schaffe». Ohne dass eine Zeitangabe wie «ab nächscht Wuche», «de» oder «irgendwenn» mitgeliefert werden muss.
Nur für gewisse Aussagen
Aus diesen Gründen überrascht es nicht, dass immer mehr Menschen das «werden»-Futur auch im Schweizerdeutschen verwenden.
Allerdings beschränkt sich der Gebrauch meist auf bestimmte Aussagewünsche: Viele sagen wohl Sätze wie «I wirde mir nie es Eifamiliehuus chönne leischte.» Denn die Präsens-Form «I cha mir nie es Eifamiliehuus leischte.» tönt komisch – findet zumindest der Autor.
Hingegen dürfte es wohl nur wenige geben, die Aussagen wie «I wirde morn a dis Geburtstagsfescht cho.» tätigen. Das wird selbst in der hochdeutschen Umgangssprache meist im Präsens ausgedrückt: «Ich komme morgen an dein Geburtstagsfest.»
Wie sich die Verwendung des Futurs im Schweizerdeutschen in Zukunft entwickeln wird, «wird sich zeige». ...oder «zeigt sich de»?