Die ersten Jahre ihres Lebens verbringt Lilian Senn in einer Pflegefamilie. «Dort ging es mir gut und sie hätten mich gerne adoptiert», erzählt die heute 63-Jährige. Doch ihre leibliche Mutter lässt das nicht zu, stattdessen wird Lilian bei Bekannten und Verwandten gelassen.
Ich war sehr einsam und von allen verlassen. Als ich am meisten jemanden brauchte, war niemand da.
Als Kind erleidet sie sexuellen Missbrauch im familiären Umfeld. Davon lässt sie sich nicht unterkriegen: Sie absolviert eine Lehre als Floristin, heiratet und bekommt zwei Söhne. Doch dann kommt das Burnout und die Scheidung nach über 20 Jahren Ehe.
Gescheiterter Neuanfang
Lilian Senn versucht ihr Glück mit einem beruflichen Neuanfang – und scheitert. Auf einen Schlag hat sie hohe Schulden und muss Insolvenz anmelden. «In der Zeit war ich sehr einsam. Als ich am meisten jemanden gebraucht hätte, war niemand da.»
Sie ist 57 Jahre alt, als sie ihre Wohnung verlassen muss. «Die Polizei war mein Zügelunternehmen. Ich hatte 15 Minuten Zeit, den letzten Krimskrams einzupacken», erinnert sie sich. Dann steht sie mit nichts als zwei Koffern und einem Rucksack auf der Strasse.
Ich hatte 15 Minuten Zeit, um den letzten 'Krismskrams' einzupacken.
Lilian Senn klingelt an fremden Türen und fragt nach einem Schlafplatz. Als Gegenleistung bietet sie Hilfe im Haushalt an. Auch in der Notschlafstelle in Basel findet sie immer wieder Unterkunft, doch das ist ihr oft zu stressig.
Zudem ist sie als Frau dort sehr exponiert: «Einen Griff an den Po oder die Brust habe ich immer wieder erlebt.» Ein sauberes Auftreten ist ihr trotz der Umstände immer wichtig: «Meine Obdachlosigkeit hat man mir nie angesehen. Ich habe mich regelmässig gewaschen, notfalls auch in einem kalten Brunnen.»
Weg von der Strasse
Lilian Senn beginnt, sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen. Hilfe bekommt sie von einer Pastorin, dank der sie es von der Strasse schafft. Heute lebt die 63-Jährige wieder in einer Wohnung. Seit 2018 ist sie als Surprise-Stadtführerin in Basel tätig. Zudem sieht sie sich als Expertin für Armut: «Ich kann den Leuten eine Welt aufzeigen, die sie nicht kennen, und sie dafür sensibilisieren.»
Heute sehe ich mich als Expertin für Armut. Ich kann eine Welt aufzeigen, die viele nicht kennen.
Damit Lilian Senn heute vor Menschen stehen und von ihrer Lebensgeschichte erzählen kann, war viel Arbeit nötig. Im Gegensatz zu früher habe sie heute aber kein Selbstmitleid mehr: «Ich kann hinstehen und sagen: Ich habe überlebt. Ich bin da. Mich gibt es.»
Ich habe überlebt. Ich bin da. Mich gibt es.