Andreas Wilhelm gilt als Punk unter den Parfümeuren. Schon als Kind hatte er den Geruch von Gewehrfett in der Nase, lange bevor auf dem Spaziergang ein Waffenplatz sichtbar war. Und heute riecht er am Bellevue in Zürich, wenn im Glarnerland der erste Schnee fällt.
Das Schlimmste ist, wenn jemand im Zug sagt: ‹Es stinkt ein bisschen, riechst du das auch?›
Für viele sei es einfach frische Luft, sagt Wilhelm. Tatsächlich werde aber ein gewisses Molekül transportiert, das seine Nase entziffern kann. Das Molekül stimuliere die trigeminale Wahrnehmung, den Nerv, der kalt und warm empfindet.
Wer so riecht, wie Andreas Wilhelm, muss ein intensives Leben haben. Er müsse sein Riechorgan bewusst einschalten, sagt die Supernase. «Das Schlimmste ist, wenn jemand im Zug sagt: ‹Es stinkt ein bisschen, riechst du das auch?›» Dann laufe natürlich bei ihm das Programm.
Duftorgel mit 1800 Düften
Wie bei einem Komponisten die Melodie, so entsteht bei Andreas Wilhelm ein Parfüm zuerst im Kopf, bevor er die verschiedenen Düfte zusammenmischt. 1800 stehen ihm in seiner Duftorgel im Labor zur Verfügung. Wenn er für einen Kunden ein Parfüm entwickelt, will er von ihm wissen, welche Emotionen angesprochen werden sollen, denn «Düfte sind Emotionen».
Wilhelm ist auch Duftkünstler. Als die aktuelle Schweizer Banknotenserie im Druck war, hat er den Duft einer frisch gepressten 200er-Note absorbiert, analysiert und rekonstruiert. Daraus entstand sein Unisex-Parfüm «Wealth», was soviel heisst wie Wohlstand. Seine treibende Kraft ist jedoch nicht Geld. «Mich interessiert Geld nicht.» Er erzähle Geschichten und könne damit Menschen berühren. Das sei ihm tausendmal mehr wert als das Bankkonto, sinniert Wilhelm.
Mit Düften Geschichten erzählen
Jedes Jahr entwickelt Andreas Wilhelm eine Duftgeschichte. Dafür stellt er sich jeweils die Frage, was ihn an der Welt stört. Für das aktuelle Jahr hat er sich für den Hass entschieden. Also hat er das Parfüm «Love» kreiert, Liebe – das Gegenteil von Hass. «Wenn ich Menschen in das Gefühl von bedingungsloser Liebe bringen kann, können sie nicht hassen.»
Und wie duftet Liebe? «Nach Popcorn, Karamell, Tolubalsam, der von einem Baum in Südamerika stammt, Vanille und Leder.» Es sei ein fröhlicher Duft, bei dem man sich von den Eltern umarmt fühle, sagt Wilhelm.
Der heute 47-Jährige wollte ursprünglich Goldschmied lernen. Der Berufsberater meinte dann, dass man auch als Chemielaborant kreativ sein könne. Wilhelm war noch jung und ein Punk mit rotem Irokesenschnitt, als er schnuppern ging. «Ich war begeistert, dass man aus farblosen Sachen etwas machen kann, das dann orange ist und gelb wird, wenn man noch Zitronensaft dazugibt.»
Abstecher in die Nahrungsmittelindustrie
Als Chemielaborant bei Givaudan, dem weltweit grössten Hersteller von Aromen und Duftstoffen, war Andreas Wilhelm später in der Herstellung von Bratensauce und Käse tätig.
Je nachdem, wie er aussieht, esse ich ihn nicht.
In der Käseproduktion habe man einer Masse von 1000 Litern ein 100 Milliliter Fläschchen Aroma beigefügt. Das sei entscheidend, ob daraus ein Gorgonzola, ein Appenzeller oder ein Tilsiter entstehe. Die Masse wurde dann sprühgetrocknet.
Seither schaue er sich den Reibkäse immer an. «Je nachdem, wie er aussieht, esse ich ihn nicht.»
Heute ist der ehemalige Chemielaborant ein preisgekrönter Parfümeur, der mit seinen Duftkreationen international Erfolge feiert. Geplant hat Andreas Wilhelm diese Karriere nicht und sagt: «Ich habe das Glück: Irgendjemand meint es noch gut mit mir. Dafür bin ich sehr dankbar.»