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Reise-Experiment Entdecken Sie vier Schweizer Orte von ihrer überraschenden Seite

Menschen sind Gewohnheitstiere. Wir bereisen immer dieselben Regionen. Durch den Rest des Landes flitzen wir hindurch, nur das Ziel vor Augen.

Doch was passiert, wenn man Postleitzahlen würfelt – und dort hinreist? Spannende Geschichten gibt es überall. Heute nehmen wir die Ausfahrt nach Härkingen, Bad Zurzach, Egg und Orselina.

Ein Erfahrungsbericht über eine Reise, die so wohl niemand geplant hätte.

4624 Härkingen – die quakende grüne Oase

Woran denken Sie, wenn Sie Härkingen hören? An Staumeldungen? Unser Versprechen: Wenn Sie in Zukunft auf der A1 vorbeifahren, werden Sie an Frösche denken – und an Ursula Oegerli!

Wir treffen sie im Garten ihres Hauses. Idyllisch sieht es aus. Gemütlich wäre es. Doch statt Vogelgezwitscher hören wir einen konstanten Lärmpegel. Das Grundstück liegt direkt an der Autobahn.

Zwischen Stau und Stillleben

Vor 40 Jahren war der Verkehr noch harmlos. «Auf dem Pannenstreifen konnten wir in die Raststätte spazieren und einen Kaffee trinken», erinnert sich die 78-jährige. «Heute schlafen wir im Keller.» Wegziehen sei trotzdem nie eine Option gewesen. «Härkingen ist schön. Mir gefällt die Natur hier und im Wald, da ist es ruhig.»

Es sei denn, es quakt ein Frosch. Härkingen ist nämlich das Dorf der Frösche. Jedes Jahr gibt es hier ein Fröschefest. Das Lokalblatt heisst Fröschenpost. Ja selbst die Bewohner nennen sich Frösche. Der Name kommt nicht von ungefähr. «Früher ist die Region regelmässig überschwemmt gewesen. Da hat es hier von Fröschen gewimmelt», erzählt uns der alteingesessene Härkinger Arthur Oegerli.

«Von meinem Nachbarn aus Kindheitstagen weiss ich, dass er Froschschenkel verkauft hat.» Scheinbar wurden sie im Dorflokal auch aufgetischt – im Bierteig. «Doch mit der Korrektur der Gewässer, sind die Amphibien aus dem Dorf verschwunden.» Das war vor über 80 Jahren.

Grün ist Härkingen aber trotzdem noch. Am Ende des Dorfes spazieren wir durch ein Meer von Tannenbäumchen. Ihre Triebe sind noch ganz jung, sie leuchten hellgrün. Es bimmeln Schafglocken. Und obwohl es Hochsommer ist, denkt man hier schon an Weihnachten.

«Gut möglich, dass Sie im Advent einen Christbaum aus Härkingen kaufen», schmunzelt Pädu Wyss. Der Landwirt führt uns über seine Plantage. 10'000 Pflanzen produziert er pro Jahr. «Jetzt muss ich sie in Form bringen, sonst kauft sie dann niemand.» Die Leute hätten immer das Gefühl, im Sommer habe er nur Ferien.

Apropos Ferien: Im Dorfzentrum versprüht die alte Gärtnerei ein fast mediterranes Flair. Die Treibhäuser wurden zu einem Hotel umgebaut. Während unweit von uns Autos und Lastwagen über die A1 kriechen, gönnen wir uns zum Abschluss unserer ersten Etappe ein Getränk unter Olivenbäumen – und geniessen die Ruhe. In Härkingen.

5330 Bad Zurzach – ein Pilgerort für Drachenfreunde

Woran denken Sie, wenn Sie Bad Zurzach hören? Ziemlich sicher an das Bad, oder? Das heisse Wasser ist heutzutage der populärste Grund, weshalb Gäste den Kurort am Rhein besuchen.

«Dabei war das alles eigentlich nur ein Zufall!», sagt Lokalhistoriker Alfred Hidber. Wir treffen ihn in einem alten hölzernen Bohrturm. «Hier wurde früher Salz gefördert. Doch dann, 1914, spritzte plötzlich Wasser aus dem Loch!». Yippie!? «Nein. Das Bohrloch hat man wieder zugeschüttet.»

Mehr als bloss ein Thermalbad

Der erste Weltkrieg brach aus. Die Zeiten waren ungünstig. Erst 1955 begann die Ära als Kurort. Der damalige Landarzt erschloss die Quelle erneut. «Bad Zurzach ist heute also berühmt für das Nebenprodukt, das anfangs eigentlich niemand wollte.»

Ein «place to be» sei Zurzach aber schon immer gewesen. Es war ein Pilgerort. Der Grund: Zurzachs berühmteste Frau, die heilige Verena. Wir besuchen ihr Grab in der Krypta des Münsters.

Ausgehend vom Pilgertum entwickelte sich Zurzach im Mittelalter zu einem der schweizweit wichtigsten Marktflecken. «Halb Europa pilgerte im Mittelalter für die Zurzacher Messe zu uns», weiss Historiker Hidber. Es muss eine riesige Gaudi gewesen sein. «Es war quasi das World Economic Forum von damals.»

Ein Pilgerort ist Bad Zurzach auch heute noch. Unter anderem für Fantasyfans. In einer alten Industriehalle tauchen wir in eine faszinierende, wenn auch leicht gruselige, Parallelwelt ein. Aus dem Dunkeln ertönt eine tiefe Stimme: «Was willst du von uns Drachen, kleiner Mensch?»

Wir sind im Drachenmuseum. Skulpturen stehen vor uns. Ihre Augen leuchten. Die Wesen sind die Werke der Künstlerin Barbara Brosowski. Schon als Kind hätten sie Fabelwesen fasziniert. «Aber ich wollte meine eigenen Kreaturen bauen.»

Vor 10 Jahren habe sie erstmals einen Drachenkopf in die Hauptgasse Zurzachs gehängt. «Die Leute waren begeistert, machten Fotos», erinnert sie sich. Später bespielte sie einen Kreisel. Es wurden immer mehr Drachen. Nun endlich hätten «ihre Kinder» ein Zuhause: das Dracolorium.

Zurück an der frischen Luft folgt die nächste Überraschung. Wir spazieren in Richtung Therme und wähnen uns plötzlich in der Provence. «Nous souhaitons un bon match» lesen wir an einer Wand.

Auf mehreren Bahnen frönt man hier dem Boule-Sport. «Während Volksturnieren spielen hier sogar 350 Personen gleichzeitig», erzählt uns Bernhard Erne. «Pétanque ist mehr als ‹Chugle in Dreck rüere›. Es ist Technik, Taktik und Teambuilding.»

«Mr. Boule», wie sie ihn hier nennen, hat über 1000 Sets Kugeln. Er verkauft sie, möchte die Leidenschaft weitergeben. «Ich habe einen Online-Shop. Aber jeweils am Samstag mache ich auch eine Sprechstunde. Die Leute kommen nach Zurzi und wir finden gemeinsam die passende Kugel». Es gibt diverse Gründe, nach Bad Zurzach zu pilgern.

9231 Egg (Flawil) – ein kleiner Weiler voller Rekorde

«Kikeriki!» weckt uns der Güggel. Nichts Aussergewöhnliches auf dem Land, oder? Doch! Die 180 Personen hier, und wir für eine Nacht, sind privilegiert. Wir werden von Mr. Schweiz himself geweckt. Joggeli, der stolze Hahn, ist hochoffiziell der schönste seiner Rasse.

«Die Kriterien haben gepasst, darum wurde er Schweizermeister», erzählt uns seine Besitzerin Myrtha Fitze bescheiden. Doch so ganz zufällig scheint uns diese Auszeichnung nicht. Oder wie war das nochmals? War da zuerst das Huhn oder das Ei? Fakt ist: Züchterin Fitze hat vergangenes Jahr auch den Titel für die schönsten Bruteier gewonnen.

Ein Ort voller Rekorde

«Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist am schönsten auf der Egg?» Dieser «Reim» begleitet uns auf unserer Entdeckungstour. Güggel Joggeli muss den Titel hier nämlich teilen. Auch eine Miss Schweiz lebt auf der Egg: Baileys. Die wunderschöne Blondine wurde 2021 zur schönsten Haflingerstute des Landes gekürt.

Wir kommen aus dem Staunen nicht heraus: Die Eggauer, sie scheinen Erfolgsverwöhnt zu sein. Auf einer Wiese treffen wir die 14-jährige Romy Zuberbühler. Zusammen mit ihrem Vater wetzt sie gerade ihre «Sägess», die Sense. «Damit sie dann auch schön haut». Wieso wir diese Anekdote erzählen? Romy mäht nicht nur zum Spass. Vergangenen Sommer wurde sie Vize-Schweizermeisterin im Handmähen.

Zum Schluss unserer Entdeckungstour treffen wir dann noch einen, der keine Konkurrenz zu fürchten hat: Bernhard Büsser. Er ist bereits Schweizermeister – im übertragenen Sinn. Er besitzt die grösste Kronkorkensammlung der Schweiz. «Es sind exakt 85'321 Stück». Feinsäuberlich sind die Blechstücke nach Ländern und Marken sortiert – in Vitrinen, Schubladen und Kisten.

«Vor rund 20 Jahren habe ich auf einer abenteuerlichen Reise durch Afrika meinen ersten als Andenken mitgenommen.» Dann hat ihn das Sammelfieber gepackt. Mittlerweile besitzt er Deckel aus 189 verschiedenen Ländern. «Nur noch sechs fehlen mir, zum Beispiel Tuvalu, Palau oder der Vatikan».

Sollten Sie sich diesen Sommer per Zufall an einem dieser Orte ein Bier gönnen... Sie wissen, wo sie den Sammler finden: auf der Egg.

6644 Orselina – ein Kraftort zwischen Yoga, Panettone und Mönchen

«Oh schön!» Fast unisono war das die Reaktion, als wir erzählten, dass wir «6644 Orselina» erwürfelt haben. Das Dorf hoch über Locarno löst bei vielen Erinnerungen an Ferien im Tessin aus.

Doch wie ist es, dort zu leben? 699 Einwohner und Einwohnerinnen zählt die Gemeinde. Die Hälfte der Menschen ist älter als 61. Zwei Drittel der Gebäude sind Zweitwohnungen.

«Oh schön» entfährt es uns erneut, als wir in Orselina ankommen. Dieser Weitblick! Doch wo können wir Einheimische treffen? Eine typische Piazza gibt es in Orselina nicht. Auch gibt es keine Bar. Überall geht es nur rauf oder runter. «Geht zu Inka!», meinte die Gemeindepräsidentin am Telefon.

Leben in der Sonnenstube

Die «Alimentari da Inka» ist das einzige verbliebene Lebensmittelgeschäft in den Bergdörfern ob Locarno. Der Laden existiert seit 75 Jahren. Doch Geschäftsführerin Inka Tripkovic hat ihm neues Leben eingehaucht. Täglich ab fünf Uhr trifft man sich hier zum «tavolino dalle cinque».

Zwei Stehtischchen vor dem Dorflädeli sind heute der inoffizielle Stammtisch Orselinas. «Es ist wie früher. Man kommt hierher für einen Schwatz, für einen Lebensmoment», erzählt uns Oliviero Giovannoni, den wir hier antreffen.

Auch könne man bei «Inka» alles kaufen. Ausser vielleicht Panettone. Für den fahren wir ans andere Ende von Orselina. Dorfbäcker Yvan Cecchettin nennt es die Königsdisziplin. «Backen an sich ist ja keine Hexerei. Aber ein Panettone dauert rund 44 Stunden», erzählt er, «es ist ein Süssgebäck, aber aus Sauerteig. Er braucht viel Pflege, selbst nach dem Backen.»

Es ist ein witziger Anblick für uns Laien. Alle fertig gebackenen Panettoni hängt Yvan Cecchettin erstmal kopfüber auf. «Die müssen so auskühlen. Sonst würden sie wie ein Soufflé in sich zusammenfallen.» Touristen würden Panettone das ganze Jahr über kaufen. Die Tessiner nur im Advent. Für spezielle Anlässe liefert die Dorfbäckerei auch ins Kloster.

Auf Madonna del Sasso leben sechs Kapuzinermönche. Einer von ihnen ist Bruder Mauro Jöhri. 12 Jahre lang diente er in Rom. Er war der weltweit höchste Kapuziner und leitete den Orden. Dann, 2018, entschied sich der Bündner als einfacher Mönch ins Tessin zurückzukehren.

«Ich war hier bereits als junger Mönch. Für mich war klar, dass ich eines Tages zurückkehren würde», erzählt er uns auf dem Balkon der Kirche. Jeden morgen um sechs Uhr komme er hierher. «Diese Aussicht ist einmalig. Egal welche Witterung herrscht, sie öffnet dir das Herz und du gehst offen in den Tag.»

Und wie ist es für ihn, dass die meisten Gäste heute keine Pilger mehr sind, sondern Touristen? Und quasi vor seinem Wohnzimmer Gelati schlecken und Selfie knipsen? «Der Ort ist für alle da. Ich unterscheide da nicht. Es sind Mitmenschen. Es ist spannend mit ihnen ins Gespräch zu kommen.»

«Dürfen wir zum Abschluss also auch noch ein Selfie machen?» «Ja, klar!». Pace e bene.

So wurden die vier Orte ausgewählt

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Zwei Männer zeigen auf einer Wandkarte auf markierte Orte.
Legende: Adrian Küpfer und Fabio Flepp, nach der Auswürfelung der vier Postleitzahlen. SRF / Lars Epting

Für die Auswürfelung der vier Reisedestinationen haben wir Dekaeder verwendet. Es sind dies spezielle Würfel mit den Ziffern 0-9. Gemäss der Schweizer Post gibt es 4380 verschiedene Postleitzahlen. Wobei: 259 Postleitzahlen gehören zu einem Unternehmen oder Postfach. Diese haben wir ausgeschlossen.

Grundsätzlich hätte jede Ortschaft zwischen 1000 (Lausanne) und 9568 (Wildhaus) gewürfelt werden können.

Einzige Einschränkungen: Die erste Ziffer musste immer eine andere Zahl sein. Und im Vorfeld wurde festgelegt, dass maximal eine französischsprachige und eine italienischsprachige Ortschaft besucht werden soll.

Sie glauben uns nicht? Hören Sie, wie wir die Postleitzahlen ausgewürfelt haben.

Radio SRF 1, Verkehrsmeldung, 29.07.2025, 07:59 Uhr

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