Sie waren völlig verarmt, die 305 Männer, Frauen und Kinder, die 1855 ihre Reise von Rothrist nach Nordamerika antraten. Die Gemeinde hatte die Reise für sie organisiert und dafür 50'000 Franken investiert. Sie wollte die Armen loswerden – sie belasteten den Finanzhaushalt der Gemeinde zu stark.
Konkurs der Gemeinde drohte
Für die leere Gemeindekasse gab es drei Gründe. Durch die industrielle Krise hatten viele Heimarbeiter ihre Arbeit in den Spinnereien oder Webereien verloren. Weiter verzeichnete Rothrist ein starkes Bevölkerungswachstum. Dazu kam die Agrarkrise. Die Gemeinde wusste sich nicht anders zu helfen, als einen Teil der Bevölkerung zur Auswanderung zu bewegen. «Rothrist machte ganz sicher Druck», sagt Ueli Tanner von der Kommission Heimatmuseum Rothrist. «Die Gemeindekasse war schlicht leer.»
Beschwerliche Reise nach Le Havre
Die Gruppe reiste auf dem Landweg nach Le Havre. Die Seereise dauerte 46 Tage und war sehr beschwerlich. Im engen Zwischendeck war es stickig und dunkel. Mit der teuren Beleuchtung musste man sparsam umgehen. Am 1. Mai 1855 traf die Rothrister Gruppe in New Orleans ein. Der grösste Teil der Rothrister Auswanderungsgruppe siedelte sich in der Gegend der Stadt St. Louis an.
400'000 Schweizer wanderten aus
Zwischen 1816 und 1914 kehrten insgesamt 400'000 Schweizer Bürger ihrer Heimat den Rücken, häufig aus schierer Not. Die Auswanderung erfolgte in drei Wellen.
Gesuchte Schweizer Fachkräfte in Russland
Während die USA eher ein Ziel für verarmte Handwerker und Bauern war, suchten viele Schweizer Fachkräfte ihr Glück in Russland. Die russischen Eliten wollten ihr Land modernisieren, aber auch gesellschaftlich und kulturell den Anschluss an den Westen finden. Schweizer Auswanderer waren also hochwillkommen. «Gesucht waren Spezialisten wie Hauslehrer, Ärzte, Käser oder Zuckerbäcker», so Peter Collmer, Historiker und Osteuropa-Spezialist an der Universität Zürich.
Bittere Folgen der Oktoberrevolution
So kam es, dass 20‘000 Schweizer im 19. Jahrhundert nach Russland auswanderten. Käser aus Reichenbach im Kanton Bern siedelten sich im ländlichen Smolensk an. Zuckerbäcker kamen vor allem aus dem Kanton Graubünden. Viele von ihnen geschäfteten sehr erfolgreich, kehrten aber nach der Oktoberrevolution von 1917 zurück in die Schweiz. Durch die Enteignungen des neuen bolschewistischen Regimes nach der Oktoberrevolution waren sie mittellos geworden.