Chaotisch, liebenswürdig, immer ein Lächeln im Gesicht, sehr ehrgeizig und sie sieht in jedem Menschen das Gute. Das ist Giulia Steingruber. So beschreibt zumindest ihre Mutter die ehemalige Kunstturnerin aus Gossau SG. Das bisherige Leben der mittlerweile 30-Jährigen ist geprägt von vielen Erfolgen, aber auch von sportlichen und privaten Tiefschlägen.
Giulia Steingruber wurde ausgelacht, als sie als Zwölfjährige sagte: «Ich will an die Olympischen Spiele.» Nur sechs Jahre später ging ihr Traum in London in Erfüllung.
Mit 14 verliess Giulia ihr Elternhaus und zog nach Magglingen. Die Jungsportlerin war in der Pubertät und fand es nicht schlimm, von zu Hause auszuziehen. Sie genoss die damit verbundenen Freiheiten und reifte zur besten Kunstturnerin der Schweiz heran.
Emotionale Achterbahnfahrt
Die Olympischen Spiele 2016 in Rio de Janeiro waren für Giulia Steingruber eine Achterbahn der Gefühle. Als Fahnenträgerin für die Schweiz führte sie die Delegation bei der Eröffnungszeremonie an. Eine grosse Ehre für die Athletin.
«Das gab mir sehr viel Motivation und Kraft», sagt die Sportlerin drei Jahre nach ihrem Rücktritt vom Spitzensport. Sie bekomme jetzt noch Hühnerhaut, wenn sie daran denke.
Das war für mich die absolute Katastrophe.
Ein Tag vor dem Sprungfinal hat sich bei Giulia Steingruber eine mentale Blockade bei den Schrauben gemeldet. Man wisse dann nicht mehr, wo oben und unten ist in der Luft und das sei sehr gefährlich. «Das war für mich die absolute Katastrophe.»
Trotz mentaler Blockade aufs Podest
Und was hat Giulia Steingruber gemacht? Sie hat den Fokus auf sich gerichtet, das Hirn abgestellt und dem Körper vertraut. Mit diesem Rezept schaffte sie es als erste Schweizer Kunstturnerin aufs Podest. Zwei Tage nach der Bronzemedaille im Sprung stand der Bodenfinal an. «Ich war so müde und konnte es nicht mehr handeln», resümiert sie.
Sie stürzte gleich zu Beginn zweimal und verletzte sich dabei am Fuss. Der Schmerzen wegen hätte sie die Übung am liebsten abgebrochen. Doch das liess ihr Kopf nicht zu – schliesslich sei sie an Olympischen Spielen und wisse nicht, wann ihr das wieder gelingt.
Wenn man einmal eine Medaille gewinnt, dann wird das immer wieder erwartet.
Misserfolge hätte sie früher besser verarbeiten können als Erfolge, sagt Giulia Steingruber. Auch wenn letztere viel Schönes mit sich bringen, steige auch der Druck. «Wenn man einmal eine Medaille gewinnt, dann wird das immer wieder erwartet.» Dabei werde vergessen, dass Sportlerinnen und Sportler auch nur Menschen sind, denen Fehler passieren.
Freud und Leid im Sport kannte Giulia Steingruber schon. 2017 ereilte sie einen persönlichen Tiefschlag. Ihre Schwester Desirée starb mit 26 Jahren an den Folgen eines Lungeninfekts. Sie war seit Geburt körperlich und geistig behindert.
Desirée fehlt mir jeden Tag.
Trotzdem – wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt habe, hat sie es durchgezogen. «Das war für mich sehr beeindruckend, weil sie sich nicht äussern und mitteilen konnte», sagt Giulia Steingruber. Ihr sei es egal gewesen, ob sie eine Medaille gewonnen hat oder nicht. Wenn sie von Magglingen nach Hause gekommen sei, habe sie sofort reagiert, wenn sie Giulias Stimme hörte. «Wenn ich zurückdenke, was für ein fröhlicher Mensch sie war, die Positivität, die sie ausgestrahlt hat, das gibt mir extrem viel. Desirée fehlt mir jeden Tag.»