Wir summen ihre Melodien auf Wanderungen, singen sie im Gesangunterricht und hören sie als moderne Interpretationen an Konzerten und am Radio. Doch was steckt eigentlich hinter diesen Liedern?
Das alte Guggisberglied
«S isch äben e Mönsch uf Ärde – Simelibärg!». Mit diesen Worten beginnt das wohl bekannteste Schweizer Volkslied über «ds Vreneli ab em Guggisberg». 350 Jahre alt dürfte die Textzeile sein. Trotzdem kennen wir sie noch heute, auch weil Musikschaffende wie Stephan Eicher, Steff la Cheffe oder die Band Angelheart mit ihrer englischen Version «If ever...» das Guggisberglied in ihr Repertoire aufgenommen haben.
S isch äben e Mönsch uf Ärde – Simelibärg!
Das besungene Guggisberg ist eine Gemeinde in den Berner Voralpen. Das Volkslied ist dort ein fester Bestandteil der Dorfidentität. Das Vreneli begegnet den Besuchenden überall: Eine Vrenelifigur ziert den Dorfbrunnen, Vreneli grüsst von der Wand des Restaurants, Vreneli ist ein Museum gewidmet.
War Vreneli eine reale Person?
Das Lied erzählt die tragische Geschichte des Mädchens Vreneli. Dieses ist verliebt in den Geissenbuben «Simmes Hans-Joggeli», also in Hans-Jakob, den Sohn Simons. Doch heiraten soll sie einen Anderen, nämlich den Sohn des Ammanns.
Die beiden Burschen geraten aneinander. Hans-Joggeli ist der Stärkere. Der Widersacher fällt zu Boden. Vrenelis Schatz hat Angst. Er denkt, der Sohn des Ammans sei tot. Er flüchtet. Zurück bleibt Vreneli. Und diese, so die Interpretation, stirbt vor Kummer.
Wir gehen davon aus, dass es das Vreneli gegeben hat.
Johannes Josi ist der ehemalige Dorflehrer von Guggisberg. Er kennt das Lied in- und auswendig. Und muss gestehen, dass man Vrenelis Existenz nicht beweisen könne. Niemand ist dabei gewesen. «Aber in Guggisberg wissen alle, wo sie einst gewohnt haben muss. Nämlich oben, auf dem Lindenhof», erzählt Josi. «Zudem gibt es kaum Zweifel, dass der besungene Simeliberg das Guggershorn, der Hausberg, sein muss.»
Und «änet em Berg», auf der Schattenseite, liegt Wahlenhaus. Dort hat gemäss Liedtext Hans-Joggeli gelebt. Und für dessen Existenz gibt es Beweise. Vor Jahren stiess man in Guggisberg auf die Volkszählung von 1715. In dieser wird ein «Jakob Bingelli – Simes Hansjaggi» namentlich erwähnt.
«Der Eintrag ist wahrscheinlich entstanden, als er Jahre nach der Flucht in die Heimat zurückgekehrt ist», erklärt Josi. Und darum ja: «Wir gehen davon aus, dass es auch das Vreneli gegeben hat.»
Impressionen aus Guggisberg
Eine schöne kleine Geschichte am Rande: Es gibt sogar einen lokalen Vrenelichor. Nur Frauen mit Vornamen «Verena» oder «Vreni» dürfen dort mitsingen. Mittlerweile drücken die Chormitglieder aber auch mal ein Auge zu, denn es fehlt der Nachwuchs. Auch Lilo darf mittlerweile mitsingen. Aber ihr Spitzname sei Vreni, erzählen die Sängerinnen.
Das verbotene Guggisberglied
Bleibt die Frage: Wie ist aus der Geschichte ein Lied entstanden? «Das weiss bei Volksliedern niemand so genau», gesteht Liedkenner Josi. Aber Fakt ist, das Lied ist alt. Die älteste schriftliche Quelle datiert von 1764. Es ist ein Eintrag im Tagebuch von Karl Graf von Zinzendorf.
Der österreichische Staatsmann sei auf seiner Reise durch die Schweiz einem merkwürdigen Lied begegnet. Einem Lied über ein «Vrenel» und einen «Simeliberg». Weiter habe er notiert, dass dieses Lied Schweizer Söldnern in fremden Diensten verboten sei, weiss Josi. Warum? «Es bestand anscheinend die Gefahr, dass das traurige Lied Heimweh auslösen und zu Desertationen führen könnte.»
Melancholisch schön ist die Melodie noch heute, verboten ist es zum Glück nicht mehr.
Ramseyers wei go grase
Haben Sie sich je überlegt, wo der «Gümligebärg» liegt? Vielleicht irgendwo in den Alpen? Nein, der Gümligenberg liegt bei Gümligen, einem Vorort von Bern. Mit einer Erhöhung von 713 Metern über Meer ist Gümligenberg eher ein Hügel. Aber er wird besungen in einem der bekanntesten Schweizer Volkslieder.
Ramseyers wei go grase, Ramseyers wei go grase, Ramseyers wei go grase, wohl uf e Gümligebärg!
Anruf auf der Gemeinde Muri bei Bern, zu welcher das Dorf Gümligen gehört: Könnte es sein, dass das bekannte Volkslied von dort stammt? Schweigen. Auch bei einer Umfrage vor Ort nur fragende Blicke. Alle kennen die Melodie, fast alle, den Text, aber verorten würden sie das Lied «ja irgendwo im Emmental» oder in der Ostschweiz «wegen des Apfelsafts».
Die Ramseyers grasten in einem Vorort von Bern
Weiterhelfen kann Ortshistoriker Walter Thut: «Die besungenen Ramseyers sind keine Erfindung. Wir haben Beweise für ihre Existenz.» In einem Verzeichnis der Kirchgemeinde aus dem Jahre 1822 kennt der Historiker einen Eintrag. Zugezogen ist damals ein Christian Ramseyer, geboren 1806 in Walkringen. Und am Eingang eines ehemaligen Bauernhauses ist noch heute die Innschrift «CREY 1841» zu lesen, eingemeisselt in Sandstein. CR steht für Christian Ramseyer, EY für Elisabeth Jakob, seine Ehefrau.
Sie hatten zehn Kinder. Und diesen ist auf dem Feld ein Missgeschick passiert. Sie verloren das frische Gras. Ihr Vater erzürnte: «Da chunt der alt Ramseyer, mit em Stäcke i der Hand - 'Chöit Dir nid besser achtig gä? Dir donners Schnuderihüng!'», heisst es im Liedtext.
Er kannte ein Lied und hat es mit seinen Beobachtungen neu getextet.
«Die Szene dürfte sich um das Jahr 1860 abgespielt haben», erklärt Ortshistoriker Thut. Er bezieht sich dabei auf eine Publikation des ehemaligen Dorfpfarrers Hans Frank , der die Geschichte des Volksliedes 1967 erforscht hat.
Parodie eines deutschen Volksliedes
Doch wie entsteht aus einem Missgeschick beim Heuen ein Lied? «Als Autor des Liedes gilt ein Landwirt namens Bieri. Der hat die Szene auf dem Feld beobachtet und daraus ein Lied geschrieben», erzählt Thut und ergänzt: «Aber die lüpfige Melodie, die wir noch heute singen, die ist nicht von ihm. Die hat er geklaut» – und zwar von einem bereits im 18. Jahrhundert bekannten deutschen Volkslied namens «Die Nonne», das genau gleich klang.
Impressionen: Auf der Suche nach den Ramseyern
Das Lied wird heute in Gümligen aber nicht mehr und nicht weniger gesungen als anderswo. Die Entstehungsgeschichte dürften nur noch wenige kennen. Ortshistoriker Thut resümiert: «Hier in der urbanen Agglomeration der Bundesstadt dreht sich das Leben etwas schneller als in Guggisberg oder sonst wo auf dem Land.»
Rigilied: Vo Luzern gäge Weggis zue
«Vo Luzärn uf Wäggis zue – brucht me weder Strümpf no Schue». Mit diesen Worten beginnt der Volksliedklassiker. Luzern, Weggis, Rigi – es gibt wohl kaum ein Volkslied, welches wir mehr mit der Zentralschweiz verbinden. Doch wo ist es entstanden? Nicht im Kanton Luzern. Nein. In Weggis steht zwar ein Gedenkstein, doch entstanden ist das Lied im Kanton Solothurn.
Vo Luzärn uf Wäggis zue – brucht me weder Strümpf no Schue.
Zur DNA eines Volksliedes gehört, dass die Entstehungsgeschichte nicht zu 100% rekonstruiert werden kann. Doch in diesem Fall stimmt diese Regel nicht. Der Schöpfer des noch heute populären Rigiliedes war 1832 Leinenweber und Musiker Johann Lüthi.
Alexandra Lüthy ist seine Ururenkelin. Auch sie ist Musikerin. Auch Sie lebt in Oberbuchsiten. «Das Lied haben wir natürlich auch in der Schule gesungen. Aber niemand hat mir geglaubt, dass es von meinem Ururgrossvater ist», erinnert sie sich, als sie mit uns nach Weggis reist.
Die Reise auf die Rigi
«1832 ist Johann Lüthi mit seinem Kumpel Franz Hammer nach Luzern gereist, um am dortigen Schützenfest als Kellner etwas Geld zu verdienen», erzählt Lüthy. «Auf dem Fest haben sie Bekanntschaft gemacht mit zwei Kellnerinnen. Und die haben sie dann im Anschluss zu einem Ausflug über den See und auf die Rigi eingeladen.»
«Dort haben sie sicher das eine oder andere Gläschen Wein getrunken», schmunzelt Lüthy. Und die Burschen hätten auf der Rigi dann auch noch lokale «Sennenmeitschi» kennengelernt.
Impressionen: Vo Luzern uf Weggis zue
Die Reise sei ihrem Ururgrossvater nicht mehr aus dem Kopf gegangen. «Zurück in Oberbuchsiten hat er das Erlebte dann Vers für Vers aufgeschrieben. Danach hat er es als Spottlied gegen seinen Kumpel in der Dorfbeiz vorgetragen.» Nicht ahnend, dass das Lied einst zu einem schweizweit bekannten Volkslied werden sollte. Allerdings nicht in der Urform.
Die letzte Strophe war nicht jugendfrei. Die durfte wohl nicht ins Gesangbuch.
Über die Jahre und mit steigender Popularität hat sich das Lied gewandelt. Die Melodie ist heute anders, aber auch der Text wurde angepasst, weiss Lüthy. Zumindest einer der Junggesellen, so scheint es, brauchte auf der Rigi nämlich tatsächlich «weder Strümpf no Schue».
9 Monate später auf der Rigi
Eines der Mädchen auf der Rigi wurde schwanger. Dies wird klar, wenn man die letzte Strophe der Urform von 1832 liest: «D'r Hammer, dää het's Blüemli g'noh, es wird im suufer use cho – Jetz darf er nümm uf d'Rigi goh, söst schickt im 's Meitli's Büebli noh.» Es war also nicht ganz jugendfrei. «So wollte man es wohl nicht im Gesangsbuch haben», vermutet die Ururenkelin.
Was im Jahre 2023 erstaunt, müssen wir im Kontext sehen. Anfang des 19. Jahrhunderts reisten die ersten Touristen auf die Rigi. Die lokale Landbevölkerung war arm. Sie versuchten den Gästen Blumen zu verkaufen und manch eine Frau hoffte wohl, einen Ehemann zu finden.