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Zeitzeugen des Ungarnaufstands Ungarnflüchtling: «Schweiz rollte roten Teppich für mich aus»

Der Aufstand, der sich 1956 in Ungarn ereignete, prägte auch die Schweiz. Vier Zeitzeuginnen und Zeitzeugen erzählen, wie das Ereignis ihr Leben verändert hat.

Friedrich Beéry: Flucht nach Bern

Am 23. Oktober 1956 demonstrierte in der ungarischen Hauptstadt Budapest eine Gruppe von Studierenden für demokratische Reformen und mehr Unabhängigkeit von der Sowjetunion. Einer von ihnen war der damals 21-jährige Student Friedrich Beéry.

Er erlebte auch mit, wie sowjetische Panzer in Budapest einrollten. In den darauffolgenden Tagen war die Situation chaotisch, es fielen Schüsse und er hörte den Donner von Kanonen. Nach der Niederschlagung des Aufstandes am 4. November kam ihm Budapest vor wie direkt nach dem Zweiten Weltkrieg. «Alles war zerschossen und zerbombt», erzählt der heute 87-jährige.

Ausser meiner Kleidung trug ich nur eine Zündholzschachtel mit einem Zettel darin bei mir.
Autor: Friedrich Beéry 1956 aus Ungarn in die Schweiz geflüchtet

Als Friedrich Beéry am 13. November feststellte, dass die Universität noch immer geschlossen war und er sein Studium nicht würde fortsetzten können, entschied er sich zur sofortigen Flucht. «Ausser meiner Kleidung trug ich nur eine kleine Zündholzschachtel mit einem Zettel darin bei mir. Darauf hatte ich Adressen im Ausland notiert, wo ich Unterschlupf finden konnte.»

Zu Fuss und per Autostopp gelangte Beéry and die österreichisch-ungarische Grenze, die er nachts in Begleitung eines Schmugglers überquerte. Von Österreich aus schickte er einen Brief an eine der Adressen in der Zündholzschachtel und erhielt daraufhin eine Bürgschaft, die ihm die Einreise in die Schweiz per Zug ermöglichte.

Ab dem Zeitpunkt seiner Ankunft in Bern sei alles für ihn organisiert worden, erinnert sich Friedrich Beéry. Jemand suchte für ihn eine Unterkunft, jemand anders immatrikulierte ihn an der Universität und der Rotary Club sprach ein Stipendium. «Es war fast so, als ob der rote Teppich für mich ausgerollt wurde. Ich hatte das nicht erwartet und war sehr gerührt.» Mit viel Enthusiasmus stürzte sich der junge Mann ins Studium der Tiermedizin und machte sich daran, Deutsch zu lernen. Er knüpfte rasch Kontakte und lebte sich gut ein.

Fritz Sartorius: Wegweisende Begegnung mit Flüchtlingen

Perspektivenwechsel: Der Bündner Fritz Sartorius war 15 Jahre alt, als er seinen Vater im November 1956 an die österreichisch-ungarische Grenze begleitete. Der Vater war Arzt und vom Roten Kreuz beauftragt, einen Zug mit ungarischen Geflüchteten von der ungarischen Grenze in die Schweiz zu begleiten und die Menschen medizinisch zu betreuen.

Lächelnder alter Mann.
Legende: Fritz Sartorius 2022. Als 15-Jähriger besuchte er 1956 ein Flüchtlingslager an der ungarisch-österreichischen Grenze. Die Begegnung mit den Geflüchteten wirkt in ihm bis heute nach. ZVG / Fritz Sartorius

Die Gesichter der Männer, Frauen und Kinder, auf die Fritz Sartorius im Flüchtlingslager an der ungarischen Grenze traf, sind ihm bis heute im Gedächtnis: «Ich sah Menschen voller Wehmut, aber auch voller Hoffnung», erinnert sich der Pensionär.

Auf dem Rückweg in die Schweiz war es Fritz Sartorius’ Aufgabe, Essen an die Geflüchteten im Zug zu verteilen. Dabei kam es auch zu Gesprächen mit den Ungarinnen und Ungaren. Eine Frau, die mit ihren Kindern im Zug reiste, sagte zum 15-Jährigen: «Stehe für Deine Heimat ein, solange Du eine hast».

Ich sah Menschen voller Wehmut, aber auch voller Hoffnung.
Autor: Fritz Sartorius Besuchte 1956 ein Lager mit ungarischen Geflüchteten

Für ihn sei das ein prägender Moment im Leben gewesen, erinnert sich Fritz Sartorius. Er habe zu diesem Zeitpunkt für sich verstanden, was für einen hohen Wert ein Leben in einem freien Land habe. Gleichzeitig habe er auch eine Verantwortung gefühlt, selbst tätig zu werden und sich für die Freiheit und den Frieden einzusetzen.

Später in seinem Leben wurde Fritz Sartorius reformierter Pfarrer und Feldprediger bei der Schweizer Armee. Die Geschichte mit der ungarischen Flüchtlingsfrau hat er seither immer wieder erzählt. Zum Beispiel, wenn ihn junge Rekruten nach dem Sinn der Rekrutenschule aber auch des Lebens allgemein fragten.

René Lechleiter: «Hau ab nach Moskau»

1956 befand sich Europa mitten im Kalten Krieg. Die grosse Solidarität, die Schweizerinnen und Schweizer für die Flüchtlinge aus Ungarn empfanden, hatte in der Schweiz auch eine Welle antikommunistischer Ressentiments zur Folge. Wer mit dem Kommunismus assoziiert wurde, sah sich von heute auf morgen zum Feind stilisiert.

So erging es auch der Familie des Zürchers René Lechleiter, dessen Eltern 1956 Mitglieder der Partei der Arbeit (PdA) waren. «Die Ereignisse dieser Tage waren einschneidend und sind bis heute in mein Gedächtnis eingebrannt», sagt Lechleiter.

Seiner Mutter wurde fristlos gekündet, es gab Todesdrohungen per Telefon und ein wütender Mob belagerte tagelang das Reiheneinfamilienhaus der Familie. «Wir mussten die Läden schliessen, weil Wurfgegenstände geworfen wurden, man hat die Fassade verschmiert mit »hau ab nach Moskau« und wie die Sprüche damals so gingen. Das war sehr bedrohlich.»

Er selbst habe die Ereignisse gut verarbeiten können, auch dank seinen Eltern, die ihm die Zusammenhänge erklärten. Andere Kinder, die er aus der Jugendorganisation der PdA kannte, seien dagegen richtiggehend traumatisiert worden in diesen Tagen, einige hätten nichts mehr mit Politik zu tun haben wollen.

Wir mussten die Läden schliessen, weil Wurfgegenstände geworfen wurden und man hat die Fassade verschmiert. Das war sehr bedrohlich.
Autor: René Lechleiter Seine Familie wurde Ziel antikommunistischen Hasses

René Lechleiter selbst wurde später in der PdA aktiv. Rückblickend sagt er, die Ereignisse von 1956 hätten ihn gelehrt, dass man genau hinschauen müsse, am besten als Augenzeuge. Die Hassreden gegen die PdA damals, als es hiess sie seien die fünfte Kolonne, die wollten, dass die Russen einmarschieren, das habe ihn stark geprägt. «Weil es Lug und Trug ist. Ich habe ja selbst erlebt, dass meine Eltern keine Rubel aus Moskau bekamen, sondern dass wir eine ziemliche prekäre Zeit durchlebten und man ihnen, einfach weil sie Mitglieder der PdA waren, die ökonomische Basis entzogen hat».

Eva Uhlmann: Interesse an Politik geweckt

So stark wie René Lechleiters Biografie wurde Eva Uhlmanns Leben nicht auf den Kopf gestellt, aber auch für ihr Leben war der Ungarnaufstand bedeutsam. Im Dezember 1956 erlebte die damals 21-Jährige als Sekretärin beim Zürcher «Tages-Anzeiger» mit, wie das Redaktionsteam in freiwilligem Einsatz ein ungarischsprachiges Informationsblatt ins Leben rief.

ältere Frau mit Brille
Legende: Eva Uhlmann 2022. Als Sekretärin war die damals 21-Jährige an der Publikation des ungarischsprachigen Nachrichtenblattes «Svájci magyar hiradó» beteiligt. Der Hiradó war ein Produkt der Solidarität gegenüber den ungarischen Geflüchteten. SRF / Nadine Lützelschwab

Das Blatt «Svájci magyar hiradó» (Schweizerisch-ungarisches Nachrichtenblatt) richtete sich an die ungarischen Flüchtlinge in der Schweiz. Es hielt die Geflüchteten über die Geschehnisse in Ungarn auf dem Laufenden und machte sie gleichzeitig mit den Sitten und Bräuchen der Schweiz vertraut, um ihre Integration zu vereinfachen. Es war aber auch ein Zeichen der Solidarität, die viele Schweizerinnen und Schweizer und eben auch das Redaktionsteam des «Tages Anzeiger» damals gegenüber den Flüchtlingen empfanden.

Mir wurde bewusst, dass Politik nichts Abstraktes ist, sondern Auswirkungen auf reale Menschen hat.
Autor: Eva Uhlmann Beteiligt an der Publikation des Hiradó

Eva Uhlmann erhielt den Auftrag, die Adresskartei des Hiradó zu pflegen, damit das Informationsblatt möglichst viele Adressatinnen und Adressaten erreichen konnte. «Von der Fremdenpolizei hat die Redaktion des «Tages Anzeiger» damals täglich aktuelle Informationen zu den Adressen der geflüchteten Ungarinnen und Ungaren erhalten», erinnert sich die heute 87-Jährige. Gerade in der Anfangszeit seien die Geflüchteten viel umgezogen.

Zusammen mit den ungarischen Namen, die für sie kompliziert und einander ähnlich klangen, machte dies das Bewirtschaften der Adresskartei zu einer Herausforderung. «Detektivisch bemühte ich mich, den richtigen György Nagy an der richtigen Adresse zu registrieren», erzählt Eva Uhlmann schmunzelnd.

Sie habe sich diese Arbeit sehr zu Herzen genommen habe, weil sie ihr als besonders sinnvoll erschien: «Das Mitwirken an diesem Projekt gab mir das Gefühl, dass andere Menschen etwas von meiner Arbeit hatten.» Die Auseinandersetzung mit dem Hiradó und seinen Adressatinnen und Adressaten habe in ihr ausserdem einen Prozess der Politisierung angestossen: «Mir wurde bewusst, dass Politik nichts Abstraktes ist, sondern Auswirkungen auf reale Menschen hat. Deshalb begann ich mich in der Zeit darauf stärker mit Politik zu beschäftigen.»

Radio SRF 1, Sendung «Treffpunkt», 11.02.22, 10 Uhr

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