Früher
Die Natur war bis vor der Industrialisierung DER zentrale Faktor der menschlichen Existenz. Sümpfe, Wälder und Gewässer waren unüberwindbare Barrieren. Einem Bauern im 15. Jahrhundert wäre es nie und nimmer in den Sinn gekommen, für einen Spaziergang in den Wald zu gehen. Das war viel zu gefährlich. Man konnte sich verlaufen, wilde Tiere und herabstürzende Äste lauerten. Schon gar nicht auch deswegen, weil es so etwas wie Freizeit für die meisten Menschen gar nicht gab. Man war vor allem mit dem Überleben beschäftigt.
Zur Erholung im Wald umherstreifen oder für den Kick einen Berggipfel besteigen? Damals eine absurde Vorstellung.
Heute
«Berg statt Büro, Wandern statt WLAN, zurück zur Natur!» So steht es auf der Webseite von Schweiz Tourismus. Wir sollen raus ins Grüne, die Natur nutzen, um Energie zu tanken. Schliesslich geht es am Montagmorgen wieder zurück ins Büro oder auf die Baustelle.
Die Natur ist zum Spielplatz und zum Ort der Erholung geworden. Insbesondere in der kleinräumigen Schweiz wurde die Wildnis zum grössten Teil regelrecht vernichtet.
Was ist passiert?
Die Briten erfinden die Dampfmaschine, Fabriken und Schornsteine schiessen aus dem Boden. Grosse Distanzen werden überwindbar, Transport wird günstig, die Welt mechanisiert sich, die Wirtschaft wächst exponentiell, und damit auch die Bevölkerung. So viel uns die Industrialisierung auch gebracht hat, so grundlegend hat sie unser Leben verändert. In den Städten wird es enger. Es stinkt, die Luft ist voller Russ, die hygienische Situation ist katastrophal, und das bringt Seuchen mit sich. Kein Wunder, entstehen neue Bedürfnisse in der Bevölkerung.
15-Minuten-Podcast «Input Kompakt» zu diesem Thema schon jetzt hören? Kein Problem: Hier.
Das Bedürfnis nach Natur wird mit Parks, Gärten, und Wanderwegen durch aufgeräumte Wälder befriedigt. Die ursprüngliche, wilde, gefährliche Natur hat immer weniger Platz und wird immer stärker zurückgedrängt. Unser Blick auf sie ist ein anderer geworden.
Wie weiter? Wieder zurück?
Ist es überhaupt möglich, der Natur – der Wildnis - wieder mehr Platz einzuräumen? Klar ist: Dazu bräuchte es eine über Jahrzehnte geplante, veränderte Siedlungspolitik. Der Historiker Stephan Sander-Faes bezweifelt gegenüber «Input» die Rückkehr der Wildnis.
Wie sollen wir das hinbekommen, wenn wir es nicht einmal schaffen, einen Platz für ein Atommüll-Endlager zu finden?
Langfristige Planung, die über die eigene Lebenserwartung hinweggeht, ist den Menschen schon immer schwergefallen. Es gibt jedoch Projekte wie den Wildnispark Sihlwald in der Nähe von Zürich, wo der Mensch nicht mehr eingreift und die Natur sich selbst überlässt - Schluss mit Strukturieren, Aufräumen und Eingrenzen.
Das Ziel: Die menschlichen Spuren zum Verschwinden zu bringen. Obwohl das auch dort noch Jahrzehnte, wenn nicht sogar Jahrhunderte dauern wird, sagt der zuständige Wildpark-Ranger Thomas Wäckerle.
Die Natur ist zurück. Sie ist immer da gewesen und wir lassen sie einfach machen, wie sie will.
Wenige Kilometer Luftlinie entfernt, auf dem Uetliberg, bietet sich ein komplett gegensätzliches Bild: Ein Naherholungsgebiet für den müden Stadtzürcher oder die Touristin aus Fernost, das mit Wildnis nicht viel zu tun hat, inklusive Aussicht auf den Stadtzürcher Siedlungsteppich.
«Input» zeigt anhand der beiden so unterschiedlichen Schauplätze, wie verschieden unser Verständnis von Natur sein kann und wie fundamental der Mensch die Natur umgestaltet hat. Wir leben zwar in einer künstlich stark veränderten Welt – die Natur ist aber immer noch da. Sie wird immer da sein. Damit sie unseren Bedürfnissen nicht in die Quere kommt, wird sie aber kleinräumiger und zerschnitten.