In der Schweiz leben rund 470'000 Menschen mit einer «starken Beeinträchtigung». Während für Menschen mit einer körperlichen Behinderung unbestritten ist, dass ihnen ein Leben ohne Barrieren, ohne Einschränkungen ermöglicht werden soll, gilt dies für Menschen mit einer geistigen Behinderung nur bedingt.
Sie werden umsorgt und an der Hand genommen. Wir meinen es gut, aber durch diese ständige Betreuung verhindern wir, dass sie lernen selber zu entscheiden.
Doch es geht auch anders – radikal anders. Wir zeigen zwei Möglichkeiten, wie Menschen mit einer geistigen Behinderung ihre Freiheit leben ausleben können.
Freiheit, bis sie weh tut
Der Pigna Park in Zürich-Kloten ist ein schweizweit einzigartiges Experiment. Dort können Menschen mit einer schweren Behinderung ihre Freiheit ausleben – bis an ihre Schmerzgrenze.
Der Park gehört zur Stiftung Pigna. Eigentlich ein traditionelles Heim für Menschen mit Behinderung. 111 Menschen wohnen dort, Menschen mit Beeinträchtigung können dort arbeiten. Doch zu diesem Standard-Angebot kommt der besondere Park hinzu.
Susanne Grasser, Teamleitern im Pigna Park, fasst ihren neuartigen Ansatz so zusammen: «Viele unserer Bewohner werden ein Leben lang an der Hand geführt. Dadurch verlernen sie selber zu bestimmen: Was will ich denn tatsächlich?»
In ihrem Park gibt es keine Förderprogramme oder Beschäftigungstherapien. Die Menschen können machen, was sie wollen. Auch wenn diese Beschäftigung für Aussenstehende keinen Sinn ergibt: «Wir müssen nicht verstehen, warum sie etwas machen. Es muss für sie passen.»
Bis an die Grenze der Selbst- und Fremdgefährdung lässt Teamleiterin Susanne Grasser alles durchgehen. Wenn sich beispielsweise ein Parkbesucher im Dreck wälzt, hebt sie ihn nicht gleich auf. Und sie eilt auch nicht zur Hilfe, wenn jemand es nicht schafft, eine Birne vom Baum zu pflücken.
Die meisten Menschen mit geistiger Behinderung werden ein Leben lang an der Hand geführt. Das nimmt ihnen die Möglichkeit, selber bestimmen zu können.
Allerdings gibt es doch Momente, in denen Susanne Grasser intervenieren muss, damit die Bedürfnisse der verschiedenen Parkbesucher aneinander vorbeikommen: «Wir haben eine Besucherin, die gerne die frische Luft auf ihrer Haut spürt. Wenn sie sich dann jeweils nackt auszieht, lenkt das andere zu sehr ab, dann muss ich jeweils vermitteln.»
Rund 25 Menschen mit schwerer Behinderung nützen die Freiheiten im Pigna Park. Ein Patentrezept sei dieses Konzept nicht, so Grasser. Viele würden sich verloren fühlen in diesem Freiraum. Doch diesen zwei Dutzend Menschen habe diese geschützte Autonomie ein grosses Stück Lebensqualität gegeben.
Sandro, 35-jährig, Down-Syndrom und sein eigener Chef
Sandro Falzarano lebt in Münchwilen im Kanton Thurgau. Er wohnt zuhause bei seiner Mutter. Lange arbeitete er in einer Tagesstätte. Doch irgendwann kam er nicht mehr zurecht mit den Strukturen. Nur in der Pause auf die Toilette, Arbeitszeiten von dann bis dann.
Ich lebe selbständig. Gehe Kaffee trinken, wann ich will. Und arbeite täglich beim Bauer im Stall.
Nun hat er eine neue Lösung gefunden. Er beschäftigt seinen eigenen Assistenten, Gianni Forrer. Ermöglicht wird dies durch das sogenannte Assistenzbudget. Dieses Modell gibt es in der Schweiz aktuell in den Kantonen Bern und Thurgau. Sandro Falzarano ist einer von gerademal acht Menschen, die im Thurgau davon profitieren.
Nicht mehr die Institution erhält vom Kanton das Geld, sondern der Betroffene direkt. Damit kann Sandro seinen Assistenten bezahlen.
Gianni Forrer unterstützt Sandro beim Einkaufen, sie machen Ausflüge oder musizieren. Auch am Fussball-Grümpelturnier hat Sandro in der Mannschaft von Gianni mitgespielt, als Torhüter.
Daneben arbeitet Sandro Falzarano täglich beim Bauern in der Nähe. Er mistet den Stall aus und füttert die Kühe. Denn auch er will arbeiten, Anerkennung für seine Tätigkeit. Doch es ist ihm wichtig, selber wählen zu können, wie und wo er arbeitet.