Bunte Balken, die aus Erdteilen emporwachsen; Landkarten, die per Mausklick alle Farben wechseln oder virtuelle Überschwemmungen an südlichen Küsten, verbrochen durch den Klimawandel: Das Internet liefert Darstellungen zu fast allen Themen – interaktiv, bewegt, bewegend und meist auf Basis von soliden Daten.
So wie die Karten des Experten Benjamin Hennig von der Universität Oxford. Der Geograph verarbeitet die Informationen zu so genannten Kartogrammen: Karten, auf denen die dargestellten Regionen ihre Form verändern – je nach dem, wie gross die Bevölkerung, Temperaturzunahme oder ein anderer Richtwert dort ist:
Bekannte Idee – moderne Methoden
Neu ist diese Idee im Prinzip nicht. Als eins der ersten Kartogramme gilt laut Sara Fabrikant, die sich am Geographischen Institut der Universität Zürich seit Jahren mit digitalen Karten befasst, eine Darstellung zum Jahr 1902: die Zusammensetzung des deutschen Reichstags, einmal mit den Mehrheiten in den Wahlkreisen auf einer herkömmlichen Landeskarte – und daneben so «verzerrt», dass die Grösse jedes Wahlkreises der Zahl seiner Bewohner entspricht. So zeigt die Reichskarte in Farben an, wie stark etwa die Sozialdemokraten Berlin und andere Grossstädte dominierten.
Per Computer lassen sich solche Kartogramme weit schneller fabrizieren als mit Rechenschieber und Tuschefeder – und so wurden es in den vergangenen Jahren immer mehr. Der Brite Danny Dorling entwickelte Mitte der Neunziger neue Algorithmen und stellte zuerst viele Daten zu Grossbritannien und dann zum Rest der Welt in immer neuen Kartogrammen dar. Auch die Formwandler-Karten von Benjamin Hennig, der bei Dorling doktorierte, fussen darauf – und sind in den Augen von Fabrikant «absolute Hingucker».
Beispiel Bevölkerung in Deutschland: Hennigs Karten zu Wachstum und Schwund in den einzelnen Bundesländern sind dermassen «verbeult», dass sie die Neugier des Betrachters zwangsläufig wecken. Doch andererseits: In einer Studie haben die Zürcher Geographen 2011 getestet, ob auch Laien solche Arten der Darstellung verstehen – mit eher negativem Resultat.
Im Beispiel von Hennig (Bild links), so Fabrikant, wird das Prinzip der Karten klar. Doch der Farbcode, nach dem die Bundesländer koloriert sind, werde nur mit einer kleinen Karte unten dargestellt – aber nicht begründet. Und eine kleine Zusatzkarte oben zeige statt der Bundesländer die kleineren deutschen Landkreise, noch dazu teils in ähnlichen Farben. «Verwirrend», findet sie, «man muss dem Betrachter klar erklären, was dargestellt ist. Das ist in diesem Fall nicht so gut gelungen.»
Die Wahl der Farbe als Nachricht
Andere Arbeiten digitaler Kartographen bringen die Expertin dagegen fast ins Schwärmen. Zum Beispiel eine Darstellung mit dem Titel «Londons Incendiary House Prices», auf der die Preise von Immobilien in London wie ein Flammenmeer dargestellt sind – von gelb über orange bis tiefrot, fast schwarz. «Sehr gelungen, wie die Gestaltung das Thema der Daten unterstützt», sagt Fabrikant.
«Wirklich super» findet sie ein noch aufwändigeres Datenwerk zu den Menschen, die in der Themse-Metropole wohnen. «Geodemographics of Londoners» zeigt auf der Basis der jüngsten Volkszählung wahlweise an, wo multi-ethnische Viertel sind, wo städtische Eliten oder hippe Kreative leben – mit Zoomfunktion bis in die Gassen jedes Viertels.
Selbst ausprobieren?
Die Quellen sind transparent, lobt die Expertin weiter, und schliesslich können die User über einen Link auf einer Webseite eingeben, wenn sie mit der Einordnung ihres Wohnorts nicht einverstanden sind – Interaktivität also: nicht nur technisch, sondern auch bei der Erfassung der Daten.
Weniger ist meistens mehr
Die Londoner, so scheint es, haben die Macht der Karten früh verstanden. Als Ende des 19. Jahrhunderts die Cholera in der Stadt wütete, ging der Arzt John Snow mit Zettel und Stift durch die Stadt und machte Strichlisten, wie viele Menschen wo daran gestorben waren. In der Broad Street häuften sich die Todesfälle – und als er eine Wasserpumpe dort ausser Betrieb setzte, kam die Epidemie zum Stillstand. Die Schwarz-Weiss-Karte, die er später dazu zeichnete, gilt heute als frühes Beispiel, wie sich Karten dazu nutzen lassen, Muster in einer Umgebung zu entdecken.
«Diese Karte ist so einfach», sagt Fabrikant, «und sie hatte einen unglaublichen Effekt.» Es brauche eben nicht immer dreidimensionale Darstellungen – auch heutzutage, findet sie. Die Forschung habe wiederholt gezeigt, dass weniger meist mehr ist: 2-D-Karten seien interaktiven 3-D-Varianten oft überlegen, weil sie einfacher zu verstehen sind.
Rücksicht auf Augentier «Mensch»
Die Geographin rät generell, Karten an die Aufnahmefähigkeit des Menschen anpassen – und die hat sich in den vergangenen 10‘000 Jahren nicht weiter entwickelt. «Man muss das Muster einer Karte auf einen Blick erfassen», sagt sie, «das ist die Leistung der Kartographen.» Zumal der Trend dank Smartphones und anderen mobilen Geräten zu kleineren Bildschirmen geht. Dass Karten interaktiv bedienbar sind, ist für Nutzer manchmal die letzte Rettung: Sich in eine Darstellung hinein zu zoomen, macht nicht nur Details sichtbar, sondern räumt auch alles Überflüssige aus dem Blickfeld.
Doch selbst bei Features wie Zoomen, Drehen oder Springen ist Vorsicht angezeigt. Das zeigt auch ein Experiment, das Sara Fabrikant mit ihren Mitarbeitern in Zürich durchgeführt hat: mit einem simplen Diagramm zum Glace-Konsum über mehrere Jahre. Die Teilnehmer konnten sich von Monat zu Monat klicken – nicht nur vorwärts, sondern auch zurück. Doch obwohl ihnen die zweite Variante erklärt worden war, klickten sie vom Vergleich von Januar mit Dezember lieber 11 Mal vorwärts als 1 Mal zurück.
«Rückwärts marschieren liegt den Leuten einfach nicht», sagt Fabrikant, «das kann man mit ‹intuitiver Gewohnheit› erklären.» Fazit: Digitale Kartographen sollten nicht für moderne leistungsfähige Computer arbeiten, sondern für Menschen mit begrenzten Fähigkeiten.