Valérie Vuillerat hatte mit 30 Frauen gerechnet, stattdessen kamen 100 und die Location musste gewechselt werden. Nun sitzen die Software-Ingenieurinnen, Interaction-Designerinnen oder App-Entwicklerinnen im Zürcher Innovation Hub und schreiben gemeinsam ein Manifest. Es soll sie sichtbar machen und ihren Zusammenhalt stärken – in einer Branche mit einem überdurchschnittlich hohen Anteil an Männern.
Die Luft vibriert vor Tatendrang. Man merkt den Frauen zwischen 20 und Mitte 40 an, dass sie etwas verändern wollen. Sie alle sind von ganz ähnlichen Erfahrungen angetrieben: Oft arbeiten sie als einzige in einem Team mit Männern. Sie kennen die Schwierigkeiten, sich in solch einer Runde zu beweisen. Den Kampf gegen das Vorurteil, sie seien inhaltlich weniger fit. Und die Ohnmacht vor unerklärbaren Lohnunterschieden.
Frauen in der Tech-Branche müssen ständig beweisen, dass sie was können. Als Frau gehört zu werden, da muss man echt taff sein.
Manche stiessen an ihre Grenzen, wenn sie Kinder bekamen, weil in ihren Unternehmen keine Teilzeit vorgesehen war. Sie alle vermissen Frauen in den Führungsetagen und finden, dass Vorbilder fehlen. «Ich möchte solch ein Vorbild sein und anderen Frauen zeigen, dass ich auch als Frau in der Tech-Branche einen super Job haben kann», sagt Valérie Vuillerat, eine der drei Initiatorinnen des neuen Netzwerks «We shape Tech», das zu diesem Event in Zürich eingeladen hat.
Vuillerat hat sechs Jahre lang eine der führenden Schweizer Webagenturen geleitet. Nun hat sie eine neue Mission. Sie will das Arbeitsklima für Frauen in der Schweizer Tech-Branche verbessern. Nicht nur für sich, sondern weil es gerade in dieser Branche in Zukunft mehr Frauen braucht.
Mehr Vielfalt bedeutet bessere IT-Produkte
Schon jetzt shoppen wir online, planen Reisen via App, schauen Filme auf Youtube, arbeiten von unterwegs statt im Büro. Und die Digitalisierung wird unser Leben immer weiter durchdringen. Doch wenn die Teams, die diese digitale Zukunft gestalten, allzu homogen sind, warnt Vuillerat, ist das problematisch: «Sind 90 Prozent der Software-Entwickler weisse Männer um die 30, dann entstehen auch vor allem Produkte für diese Zielgruppe». IT-Produkte werden aber von allen Teilen der Gesellschaft genutzt. Und 50 Prozent davon sind Frauen.
Die fehlende Vielfalt in der Technologie-Branche ist ein grosses Thema. Nicht zuletzt seit Apple 2014 seine Gesundheitsapp herausbrachte, mit der die User alles tracken konnten – nur nicht den weiblichen Zyklus. Das Feature war schlicht vergessen worden. Apple brachte nach einem Jahr eine aktualisierte Version heraus.
Wie wichtig mehr Diversität ist, zeigt auch ein Report des letzten World Economic Forum. Dutzende Jobs, die heute von Frauen gemacht werden, werden der Digitalisierung zum Opfer fallen. Viele neue Jobs hingegen entstehen in den traditionell männertypischen Bereichen Computer, Technik oder Ingenieurswesen. Wenn es dort nicht mehr Frauen gibt, werden die Firmen Probleme haben, genügend Talente mit guten Ideen einzustellen.
Lieber Psychologie statt Informatik
Das Problem der fehlenden Frauen in Technologie-Berufen ist nicht neu und hat viele Facetten – und das ist der Haken. Wo anfangen? Mit den wenigen Frauen, die überhaupt in die Branche finden? Gerade einmal 13 Prozent der Angestellten in der Elektronik- und Computertechnik in der Schweiz sind Frauen.
Ich mochte Mathe immer. Auf dem Gymi hat mir das mein Lehrer aber nicht zugetraut. Als ich einen Sechser schrieb, hat er mich gefragt: ‹Hast du deinen Zwillingsbruder mitgebracht?›. Das treibt Frauen nicht gerade an, sich einen Job in der Tech-Branche zu suchen.
Viele junge Frauen kommen gar nicht erst auf die Idee, einen technischen Beruf zu ergreifen. Sind sie mathematisch oder naturwissenschaftlich begabt, studieren sie eher Medizin oder Psychologie statt Informatik und Maschinenbau. Oft fehlen schlicht die Vorbilder – dabei wählten beispielsweise Mädchen in den USA signifikant häufiger Physik in der Highschool, wenn nur schon die Mutter einer Freundin einen technischen Beruf hatte, von dem sie ab und an erzählte.
Auch stereotype Berufsbilder vom Elektrotechniker und der Krankenschwester spielen hier hinein, zeigt eine Studie aus Bern. Und der allgegenwärtige Nerd gehört ebenfalls zu diesen Klischees, denn obwohl er heute hip und salonfähig geworden ist, schreckt es noch immer viele junge Frauen ab, in einem von dieser «Kultur» geprägten Umfeld zu arbeiten.
«Es ist das Klima, Dummchen!»
Doch Frauen in die Tech-Branche zu bringen, ist gar nicht das grösste Problem. Viel schwieriger scheint es, sie dort zu halten. Der Grund? «It’s the climate, stupid!», resümiert die US-amerikanische Psychologin Nadya Fouad. Sie befragte 5300 Ingenieurinnen in den Bereichen Luftfahrt, Biotechnologie und Software-Entwicklung, um herauszufinden, warum knapp 40 Prozent der Frauen das Berufsfeld verliessen.
Hauptgrund war das schlechte Arbeitsklima. Die Ingenieurinnen fühlten sich nicht gefördert, oft wurde der Arbeitsalltag als frauenfeindlich beschrieben. Diese Probleme kennt auch Valérie Vuillerat: «Es gibt einige Männer, die das Gefühl haben, Frauen und Technologie passen nicht zusammen». Weibliche Stärken würden oft nicht wahrgenommen. Viele Frauen hätten irgendwann keine Lust mehr zu kämpfen und steckten ihre Energie und Erfahrung lieber in andere Betätigungsfelder.
Um die Arbeitskultur zu ändern, braucht es eine kritische Masse. Gibt es mehr Frauen, muss nicht mehr jede für sich kämpfen. Dann geht weniger Energie drauf.
Wissenschaftler sprechen vom Drehtür-Effekt. Und die rotiert besonders schnell, wenn die Frauen Kinder bekommen. In Unternehmen, in denen zu 90 Prozent Männer arbeiten, sind flexible Arbeitszeiten oft nicht vorgesehen, berichten viele Frauen, besonders von kleinen und Start-up-Unternehmen.
Es braucht eine kritische Masse
Dabei bestreitet heute niemand mehr, dass die Branche mehr Frauen braucht. Viele grosse Firmen seien auch schon auf dem richtigen Weg, sagt Priska Altorfer, die selbst ein IT-Unternehmen führt und sich seit Jahren beim Frauennetzwerk Donna Informatica der Schweizer Informatikgesellschaft engagiert. «Die eigentliche Herausforderung ist, die KMU ins Boot zu holen.»
Das findet auch Valérie Vuillerat: «Es braucht ein Miteinander. Unser Ziel ist, gemeinsam mit Unternehmen Konzepte auszuarbeiten, wie Frauen in der Branche gezogen und gehalten werden können».
Wenn es mehr Role Models gäbe, wäre es einfacher, die Kultur zu ändern. Dazu muss man nicht viel sagen, man muss einfach erleben: Wow, diese Frau ist cool!
Die 100 Frauen, die sich unter dem Motto «We shape Tech» in Zürich trafen, sind ein Anfang. Vielleicht wurde hier die eine oder andere Seilschaft geknüpft, die in Zukunft Unterstützung verspricht. Vielleicht der Wille gestärkt, der einigen Frauen hilft, den Weg nach oben zu schaffen. Denn an einem zweifelt hier keine: Es braucht ihre Fähigkeiten und Denkweise in der Tech-Branche. Auch wenn sie alle wissen: Ein Manifest wird nicht reichen.
Was habt ihr für Erfahrungen gemacht? Schreibt uns einen Kommentar.