Mit seinen zwei Metern Körpergrösse fällt Alex Hofer in China noch mehr auf als in der Schweiz. Der Physiker arbeitet seit rund acht Jahren in Shenzhen – quasi als Technologie-Agent, der zwischen Schweizer oder deutschen Auftraggebern und chinesischen Fabriken vermittelt. Er holt mich mit dem Auto ab, steuert mich und seine chinesische Assistentin sicher durch den chaotischen Verkehr. «Auf der Strasse gibt es hier keine Regeln. Man kann machen, was man will – es funktioniert aber auch so» sagt der 37-Jährige und lacht. Er hat keine Probleme mit dem vermeintlichen Chaos. Im Gegenteil: Probleme bereiteten ihm die starren Regeln in der Schweiz.
Nach rund 30 Minuten kommen wir im ersten Betrieb an: eine Fabrik mit 90 Mitarbeitern; eine Fabrik, wie es sie hier zu Tausenden gibt.
Bevor wir die Produktions-Räume betreten, ziehen wir einen sauberen, weissen Mantel an und bedecken unsere Schuhe – mit Hilfe eines raffinierten Gerätes am Boden: eine Kiste, in die man mit einem Fuss hineinschlüpft, um sich von unten einen Schutz über die Schuhe stülpen zu lassen.
Im ersten Raum der Fabrik Parolen an den Wänden. In grossen roten Zeichen fordern sie die Mitarbeiter auf, voneinander zu lernen. Etwa zehn junge Menschen sitzen hintereinander an kleinen Tischchen, alle unter dreissig Jahren, über jedem Arbeitsplatz ein Dampfabzug. Jeder von ihnen steckt etwa zwei Dutzend elektronische Komponenten auf eine Platine, lötet sie fest und legt die fertigen Geräte neben sich auf ein Förderband.
Sind alle Arbeitsschritte fertig, ist ein Gerät entstanden, das ein Video in einer Endlosschlaufe abspielen kann. Gedacht ist das Produkt für britische Konsumenten, die statt eines richtigen Feuers lieber einen Monitor in ihrem Cheminée aufstellen.
Die meisten Angestellten gehören zur Generation der nach 1990 geborenen, zu den sogenannten «Jiulinghou». Gemeint ist eine Generation, die sich nicht mehr als gefallen lässt. «Kritisiert ein Arbeitgeber einen jungen Angestellten, so muss er damit rechnen, dass ihm dieser davon läuft, selbst wenn die Kritik gerechtfertigt ist», sagt Hofer. Die Arbeiter sitzen am längeren Hebel, denn wegen der Einkind-Politik finden die Fabriken seit ein paar Jahren nicht mehr genügend Personal.
Roboter statt Menschen
Wir gehen in den nächsten Raum; hier sind es anstelle von Menschen Maschinen, die die Platinen bestücken. Rasant platziert ein Roboter-Arm die Bauteile auf der Leiterplatine. «Bei einer Auflage ab 500 Stück und bei Geräten, die aus mehr als zwei Dutzend Komponenten bestehen, lohnt sich der Einsatz eines Automaten», erklärt die Abteilungsleiterin. Die Bauteile, die der Roboter benötigt, sind auf schmalen, langen Folien befestigt. Sie sind auf Spulen aufgewickelt, wie sie in alten 16-mm Film-Projektoren verwendet wurden. Jeder Roboter wird durch mehrere Spulen gefüttert.
«Die Kosten für das Zusammenbauen machen nur einen kleinen Teil der Gesamtkosten der Fabrikation aus», sagt Hofer, «die Fabriken versuchen deshalb, mit dem Handel der Bauteile Geld zu verdienen.» Die Margen auf diesen Komponenten sind aber sehr klein und die Auftraggeber stehen unter grossem Druck, Kosten zu sparen – das zwingt zur Massenproduktion.
So ist in Shenzhen der weltweit grösste Markt für Elektronik-Bauteile entstanden. Hier findet man nicht nur die gängigen Chips innerhalb von Stunden: Die Händler können auch in grossen Stückzahlen liefern. Spezielle Bauteile werden über das nahe gelegene Hongkong aus Übersee importiert und dann (oft am Zoll vorbei) nach Shenzhen gebracht.
Steigende Kosten
Zeit für das Mittagessen. In einem kleinen Restaurant gleich neben der Fabrik bestellt Hofer Suppe und Teigtaschen für uns. «Essen ist immer noch billig. Für einen Franken kann man hier nach wie vor satt werden», erzählt er. Doch vieles sei in den letzten Jahren teurer geworden: Die Mieten haben sich verdoppelt und auch die Löhne sind zwar gestiegen – aber nicht im gleichen Ausmass.
Ein Angestellter in der Fabrik, die wir eben besucht haben, verdient rund 750 Franken im Monat. Das ist genug zum Leben und um etwas Geld auf die Seite zu legen, aber für eine eigne Wohnung reicht es dann doch nicht. Drei bis vier Arbeiter teilen sich jeweils einen Raum in einem Wohnheim.
Alex Hofer bezahlt die Rechnung, und es geht im Auto weiter zur nächsten Fabrik, die für einen deutschen Kunden ein Aluminium-Gehäuse produziert – ein weiterer der vielen Bausteine, die den Produktionsstandort Shenzhen bilden.
Vorteil Geschwindigkeit und Motivation
In der Metropole mit mehr als zehn Millionen Einwohnern gibt es nicht nur Fabriken, die sich auf Elektronik spezialisiert haben, sondern auch tausende Betriebe, die Kunststoff herstellen oder Aluminium formen und bearbeiten. Von den elektronischen Innereien eines Gerätes bis zum Gehäuse kommt alles aus der selben Stadt.
Diese gigantische Vernetzung ist zu einem wichtigen Standortvorteil geworden. «Shenzhen ist sehr lebendig», sagt Alex Hofer, während er sich auf der sechsspurigen Strasse geschickt durch den Verkehr schlängelt, «wenn ich ein Produkt entwickle, kann ich am Morgen einen Anbieter suchen und weiss dann bereits am Nachmittag, was ich an meinem Design ändern muss. An einem anderen Ort dauert das alles viel länger.»
Ein weiterer Vorteil dieser Stadt: Alle Einwohner sind zugezogen und haben ihr Beziehungsnetz zurückgelassen – anders als etwa in Beijing, wo persönliche Kontakte beim Geschäften oft den Ausschlag geben. Hier sind die Spiesse für alle gleich lang.
Wachhund für seine Auftraggeber
Hofer lebt seit rund einem Jahrzehnt im Reich der Mitte. An den Chinesen schätzt er die Tüchtigkeit: «Sie wollen Geld verdienen und haben deshalb ein Interesse, dass ein Projekt gelingt.» Doch die Fixierung aufs Geld kann auch eine Schwäche sein, erklärt der Technologie-Agent. «Sie versuchen oft, hintenrum den Profit noch zu steigern, indem sie zum Beispiel billige Materialien verwenden», sagt er, «es ist mein Job hier, aufzupassen und das zu verhindern.»
Doch zuvor muss Hofer überhaupt eine geeignete Fabrik finden, muss abschätzen, ob sie in der Lage ist, das Produkt in der geforderten Qualität herzustellen – und dann die Produktion überwachen. Im Eloxier-Werk zum Beispiel, bei dem wir mittlerweile angekommen sind: Er überprüft, ob die Farbe auf einem Aluminium-Deckel stimmt und stellt sicher, dass im letzten Arbeitsschritt keine Kratzer hinzugefügt wurden. Und sofort geht es weiter in die nächste Fabrik, wo zähe Verhandlungen anstehen, die er auf Chinesisch führt.
Kurze Wege – auch in der Freizeit
Verhandeln in einer fremdem Sprache und in einer Kultur mit ganz anderen Konventionen – keine einfache Aufgabe. Hofer steht zusätzlich unter Druck, denn er trägt das finanzielle Risiko selbst. Doch die komplexe Herausforderung, die die Fabrikation eines Produktes oft darstellt, macht dem 37-jährigen Spass.
Und noch etwas gefällt ihm an seiner Arbeit: Die Flexibilität, die er dabei geniesst. Ist das Wetter schön, nimmt sich der passionierte Surfer gerne auch mal die Freiheit, ans Meer zu fahren und sich in die Wellen zu stürzen. Denn Shenzhen hat mehr zubieten als endlos viele Fabriken – es gibt auch eine lange Küstenlinie.