Zum Inhalt springen

Header

Inhalt

Digital Youtube-Star? Nein, Job-Bewerberin

Bewerbungsschreiben schicken und auf ein Vorstellungsgespräch hoffen – das finden viele Personal-Verantwortliche nicht mehr zeitgemäss. Ein Instrument aus den USA hält in die ersten Schweizer Konzerne Einzug: Job-Interessierte müssen online Fragen per Video beantworten. Das ruft auch Kritik hervor.

Migros und Cablecom setzen sie schon ein, Sunrise und Tamedia testen sie: zeitversetzte Video-Interviews. Der Bewerber muss Videos von sich aufzeichnen, in denen er Fragen seines potenziellen Arbeitgebers beantwortet: «Beschreiben Sie sich mit drei Stichworten, warum treffen gerade die auf Sie zu?»; «Was fasziniert Sie an unserem Unternehmen?».

Zeitversetzte Video-Interviews

Box aufklappen Box zuklappen

Die zeitversetzten Video-Interviews sind eine Entwicklung der US-Firma Wepow. Vor drei Jahren hat das Unternehmen Livejobs das Instrument in die Schweiz geholt und an den hiesigen Markt angepasst. Deutschland hat eine eigene Anwendung entwickelt – allerdings mit einem Unterschied: Bewerber erhalten die Fragen der Unternehmen rein schriftlich.

Wie lange über eine Antwort nachgedacht werden und wie lange diese dauern darf, ist genau vorgegeben. Einmal auf den Aufnahmeknopf gedrückt, gibt es kein Zurück: Die Bewerber haben genau einen Versuch.

In US-amerikanischen Blogs wird dem Instrument eine grosse Zukunft prophezeit; es heisst, die zeitversetzten Video-Interviews machten derzeit «den grössten Lärm in der Branche». Schweizer Personalforscher sehen in der neuen Form des Bewerbungs-Interviews ein angemessenes Verfahren im digitalen Zeitalter. «Es ist eine interessante Methode, da sie orts- und zeitunabhängig ist», so der Berner Betriebswirtschafts-Professor Adrian Ritz. Zu keiner Zeit müssen Firmenvertreter und Bewerber gemeinsam vor dem Bildschirm sitzen.

Kein Ersatz für Vorstellungsgespräch

Allerdings hat das Instrument auch seine Grenzen, findet Martina Zölch. Sie leitet das Institut für Personalmanagement und Organisation an der Fachhochschule Nordwestschweiz. «Im Face-to-Face-Gespräch geschieht sehr Vieles», so Martina Zölch, «Gerüche, der Händedruck, Nähe und Distanz – all dies spielt eine grosse Rolle». In zeitversetzten Video-Interviews fehlten diese Dinge.

Auch laut Adrian Ritz könnten sie wichtige Elemente im Bewerbungsverfahren nicht ersetzen – «zum Beispiel das Nachfragen im persönlichen Gespräch». Das Instrument tritt denn auch nicht an die Stelle eines herkömmlichen Vorstellungsgesprächs. Erst hier können beide Seiten direkt aufeinander reagieren.

Für Unternehmen wie Migros oder Cablecom aber, die aus einer immensen Zahl von Bewerbern auswählen müssen, sind die Videos nach Ritz' Meinung für die Vorauswahl sehr sinnvoll. Die Unternehmen haben die Möglichkeit, mehr von ihren Kandidaten zu sehen als eine schriftliche Bewerbung und möglicherweise ein Foto. Und sie können Antworten auf dieselben Fragen direkt miteinander vergleichen.

«Hürden werden für Bewerber immer höher»

Für die Kandidaten hingegen bedeutet das einen weiteren Schritt bis zur Einladung zum Vorstellungsgespräch. Und Bewerbern wird ohnehin immer mehr abverlangt. Das bestätigen beide Personalforscher.

Frau und Mann schauen auf Bildschirm und unterhalten sich dabei.
Legende: Eine Hürde mehr: Corinne Betschart hat das Video-Interview durchlaufen, bevor sie bei Migros eingestellt wurde. SRF

Die Gewerkschaft Unia äussert sich gegenüber «ECO» kritisch zu den zeitversetzten Bewerbungs-Interviews: «Es ist problematisch, wenn die Hürden für Bewerber und Bewerberinnen immer höher angesetzt werden.» Insbesondere ältere Mitarbeitende könnten ausgeschlossen werden, obwohl sie für die eigentliche Aufgabe durchaus geeignet wären. Cablecom entgegnet: Das Instrument komme im Haus nur für Stellen zum Einsatz, in denen Technik-Affinität Voraussetzung sei.

Unternehmen «bewerben» sich bei Bewerbern

Bewerbungsverfahren wandeln sich mit den digitalen Möglichkeiten und das Internet nimmt eine zentrale Rolle bei der Suche nach neuen Mitarbeitern ein. «Es wird mehr investiert im Recruiting», beobachtet Martina Zölch. «Vor allem Grossfirmen verbessern und modernisieren laufend ihren Recruiting-Prozess», bestätigt Adrian Ritz.

Dieser wird zunehmend zu einer beidseitigen Angelegenheit. Denn die Unternehmen suchen nicht nur Bewerber per Video, sondern sie «bewerben» sich damit auch selbst bei ihren potenziellen Mitarbeitern. Indem sie sich in Image-Videos auf ihren Firmen-Websites präsentieren oder die Sozialen Medien nutzen, um valable Kandidaten zu finden. Das Ziel: Unternehmen wollen eine Bindung zwischen sich und ihren Bewerbern herstellen – und so die besten Köpfe für sich gewinnen.

Meistgelesene Artikel