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Eltern-Kind-Entfremdung «Sie war das absolut Böse»: Wenn das Kind den Kontakt abbricht

Eigentlich will ein Kind Mutter und Vater lieb haben. Was passiert, wenn ein Kind einen Elternteil verstösst? André und Martina erinnern sich an ihre Jugend.

André ist heute 50 Jahre alt. Mit 15 trennten sich seine Eltern. Er und seine Schwestern wurden der Mutter zugesprochen. André entschied sich dagegen und zog zum Vater: «Da erfuhr ich eine vollständige Trennung von der Mutter und den Schwestern.» Zehn Jahre lang suchte André keinen Kontakt zu seiner Mutter: «Sie war das absolut Böse», dachte er über seine Mutter. Dass der Hass gegen seine Mutter nicht von ihm aus kam, verstand er erst viele Jahre später.

Eltern-Kind-Entfremdung: Das Kind im Loyalitätskonflikt:

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Eigentlich möchte das Kind Mutter und Vater lieb habe und nimmt die Eltern als Einheit wahr. Kommt es zur Trennung, zerbricht diese Einheit. Wie soll das Kind nun beiden Elternteilen seine Liebe zeigen? «Wenn das Kind den Loyalitätskonflikt nicht mehr aushält, geht es eine Koalition mit dem Elternteil ein, von dem es sich abhängiger fühlt», erklärt die Psychologin und Gutachterin Liselotte Staub. Wird der Druck zu gross, spaltet es einen Elternteil ab um mit der Belastung fertig zu werden.

Es wird zwischen reaktiver Entfremdung und induzierter Entfremdung unterschieden. Von reaktiver Entfremdung wird gesprochen, wenn sich das Kind aufgrund realer Erfahrungen wie etwa Gewalt von einem Elternteil abspaltet. Bei der induzerten Entfremdung ist die Rede, wenn das Kind durch bewusste oder unbewusste Einflussnahme eines Elternteils sich vom anderen abwendet.

«Er gab mir subtil zu verstehen, dass meine Mutter zu sehen keine Option ist»

Andrés Vater habe nie den Namen der Mutter genannt und nur von «ihr» geredet: «Sie tat mir so viel Leid an, willst du sie wirklich wieder sehen? Du weisst doch, was sie mir alles angetan hat.» Dazu sei immer wieder die Anschuldigung gekommen, dass die Mutter die Familie zerstört habe, erinnert sich André.

Martina ist heute 52. Ihre Eltern trennten sich, als sie 13 Jahre alt war. Martina und ihr Bruder kamen zur Mutter, die stark unter der Trennung gelitten habe: «Sie brauchte Unterstützung und so wurde ich zur besten Freundin, die zu ihr hielt und nicht zu meinem Vater.» Martina sah ihre Mutter als Opfer und will ihr beistehen. Keine Aufgabe für ein Kind. Sie ist erschöpft und kriegt starke Hautausschläge. Zu viel Belastung für einen Teenager:

«Ich musste die Belastung loswerden, also entschied ich, nicht mehr zu meinem Vater zu gehen.» Martina war in einem Loyalitätskonflikt: «Ich dachte, es sei mein freier Wille bei meiner Mutter zu bleiben.»

Der vermeintlich freie Entscheid, einen Elternteil nicht mehr sehen zu wollen

«Damals habe ich nicht realisiert, dass das nicht mein freier Wille war», erinnert sich Martina. Einerseits wollte sie ihren Vater nicht mehr sehen, andererseits fühlte sie sich sehr schuldig, weil sie ihn im Stich liess: «Erst vor einigen Jahren, als ich von Loyalitätskonflikten und Entfremdung gelesen habe, dass Kinder zu ihrer Entlastung einen Elternteil nicht mehr sehen wollen, habe ich gemerkt: Das habe ich gemacht.»

Das Kind in einer erdrückenden Rolle

«Ich dachte auch, dass mich meine Mutter braucht, eine beste Freundin, die ihr hilft. Ich habe extrem viel im Haushalt geholfen und mir all ihre Probleme angehört - das ist nicht die Rolle eines Kindes», erinnert sich Martina zurück.

Auch André fühlte sich als Jugendlicher in eine falsche Rolle gedrängt: «Ich beobachtete bei beiden Eltern, dass sie uns Kinder brauchten. Diese Rolle ist nicht in Ordnung.»

Martina und André haben heute wieder Kontakt mit dem Vater respektive der Mutter. Dass aber entfremdete Kinder und Elternteile wieder zusammenfinden, ist laut Fachleuten selten.

«Ich habe immer gespürt, dass etwas nicht in Ordnung ist»

Was hätten sich die beiden rückblickend gewünscht? «Es ist wichtig, dass Eltern die Perspektive des Kindes einnehmen und sich bewusst werden, wie es dem Kind geht, wenn es zwischen den Fronten steht», sagt Martina und meint weiter: «Sich überlegen, was zu tun ist, damit es dem Kind besser geht und sich Hilfe von Fachpersonen holen. Hilfe für das Kind aber auch für sich selbst.»

André hätte sich gewünscht, ernst genommen zu werden: «Höre auf das, was du spürst», würde er seinem damaligen Ich sagen. «Meine Wahrnehmung verlor an Validität, weil alle anderen besser wussten, was ich empfinde. Dabei habe ich immer gespürt, dass etwas nicht in Ordnung ist, aber ich habe es nicht ernst genommen.»

SRF 3 Input

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