Nach zwei Minuten bin ich in einer anderen Welt. Alles ist viereckig. Ich wippe im Takt der Musik auf dem Stuhl auf und ab. Mein Herz schlägt im Takt. Meine Finger drücken: Eins, zwei, graben, vier, fünf, sechs, Hieb, zurück; Hieb, zwei, graben, graben, fünf, sechs, Gold sammeln, autsch!
Das hat bislang kein Game geschafft: Schon nach ein paar Minuten in «Crypt of the Necrodancer» bin ich vollkommen im Game versunken, Hand, Verstand und Spielfigur bewegen sich koordiniert im Takt der pumpenden, lüpfigen Elektromusik. So schnell nach Spielstart kam Flow-Gefühl noch nie.
Rhythm is our Business
Im Grunde genommen bringt «Crypt of the Necrodancer» zwei kaum verwandte Spielprinzipien zusammen: Zum ist es ein « Roguelike », ein Gameprinzip, in dem meine Spielfigur sich durch dunkle Gewölbe bewegt, Monster erschlägt und, wenn sie stirbt, wieder von vorne anfangen muss. Zum andern ist es ein Rhythmus-Spiel , in dem ich dem Takt der Musik folgen muss. Nur spiele ich in «Crypt of the Necrodancer» keine Gitarre, sondern schwinge ein Schwert im Takt.
Denn Cadence, die Hauptfigur des Games, ist neugierig. Sie sucht ihren Vater, der seit zwei Jahren in der Gruft des Necrodancers verschollen ist. Während sie in seine Gruft hinabsteigt, fällt Cadence durch einen Spalt und schlägt sich den Kopf an. Wieder bei Bewusstsein, hat der Necrodancer ihr Herz gestohlen, und sie muss sich fortan zum Takt der Musik durch die Gewölbe bewegen, um sich und ihren Vater zu retten.
Dazu bewege ich Cadence mit einer schnell erlernten Steuerung durch die Gewölbe. Gerade einmal vier Tasten – die Pfeiltasten – reichen für das komplette Game aus. Aus isometrischer Perspektive blicke ich schräg von oben auf das Spielgeschehen, das sich mir wie ein grosses Schachbrett präsentiert. Mit einer Schaufel grabe ich mich durch Wände und töte mit meinem Dolch Monster aller Art: Skelette, Affen, Minotauren, explodierende Pilzen und natürlich Drachen.
Doch meine Bewegungsfreiheit ist eingeschränkt. Am unteren Bildschirmrand wird der Takt der Musik angezeigt, die im Hintergrund läuft. Nur bei jedem Taktschlag kann ich Cadence bewegen und mit ihr eine Aktion vollführen: Einmal graben, einmal schlagen, ein Feld weiter hüpfen. Und die Gegner, die hüpfen mit.
Schach auf LSD und Speed
Die Gegner hüpfen jedoch nicht irgendwie: Wie beim Schachspiel bewegen sich alle Gegner in einem bestimmten Muster. Golems beispielsweise wälzen sich nur zu jedem vierten Takt ein Feld weit. Drachen bewegen sich zu jedem Takt ein Feld weit und töten mich sofort mit ihrem Feueratem, wenn ich zu ihnen in einer horizontalen Linie stehe. Affen kann ich nur besiegen, wenn zwischen ihnen und mir eine gerade Zahl von Feldern ist. Goblins bewegen sich nur in meine Richtung und meine Reichweite, wenn ich daran bin, Wände durchzugraben.
Jetzt wirft das Game all diese Figuren in eine Landschaft. Das geht so lange gut, wie Cadence nur ein, zwei Gegner aufs Mal in ihrer Reichweite hat. Wird die Musik jedoch schneller und häufen sich die Gegner mit ihren verschiedenen Bewegungsmustern, benötigt es schnelle Finger, Konzentration und ein gutes Rhythmusgefühl. Und es setzt voraus, dass ich mit den Bewegungsmustern vertraut bin.
Da blockiert mich etwas mein Game-Reflex, der sofort Gegner in Reichweite eliminieren will – aber in «Crypt of the Necrodancer» spielt der Takt die Musik und nicht ich. Wie Cadence muss auch ich mich dieser unterwerfen, und kann nur zuschlagen, wenn die Musik es erlaubt. Genau dies macht den grossen Reiz dieses Games aus: Alles bewegt sich mit mathematischer Präzision, doch ab einer gewissen Anzahl Gegnern ist es fast unmöglich, die Bewegungen der Gegner zu antizipieren und die Konzentration halten.
Quadratisch, praktisch, gut
Und die braucht es, um den Überblick zu halten. Die Grafik ist die reinste Pixelparty, Cadence und ihre Gegner sind eine charmante Ansammlung von kleinen Quadraten. Für einmal stört mich dieser Retro-Look nicht, schliesslich liegt der Glanzpunkt des Games nicht auf der Grafik, sondern auf dem innovativen Spielprinzip. Und letztlich ist die quadratische Pixelparty eine hübsche Fortführung, ein Mise-en-abyme , des Schachbrettmusters als Grundeinheit des Games.
Cadence hüpft also über dieses Gewölbe-Schachbrett, und wenn sie und ein Gegner gleichzeitig auf ein Feld hüpfen wollen, so nimmt Cadence Schaden – und wenn es zu oft vorkommt, muss ich den Level wieder von vorne beginnen. Eliminiert sie jedoch den Gegner, bleiben Goldstücke übrig, mit denen sie sich eine dringend benötigte, bessere Ausrüstung kaufen kann: Eine Lederrüstung, magische Ringe, oder etwa ein Rapier, um Gegner über mehrere Felder hinweg zu besiegen.
Mit dem eigenen Beat das Game schlagen
Mehr zum Game
Das Game hat mich mit seiner Musik - komponiert von Darren Baranowsky - von Anfang an in seinen Bann geschlagen. Doch die Krönung, der Tusch aus «Crypt of the Necrodancer» begleitet mich sogar in den Alltag. Nach diesem Game höre ich nicht mehr normal Musik. Jedes Stück prüfe ich fast automatisch: Würde der Rhythmus zu «Crypt of the Necrodancer» passen? Wäre das eine gute Geschwindigkeit? Wo liegt der Takt?
Denn das Game erlaubt, seine eigene Musik zu verwenden, also Cadence und die Gegner nach der eigenen Musik tanzen zu lassen. Dazu benötigt man lediglich ein MP3 des Stücks. Ich kann selber wählen, in welchen Level ich welches Stück integrieren will. Hat mich das Game schon von Anfang an mitgerissen, weckte es hier meine Experimentierfreude. Was für Möglichkeiten!
Eindeutige Beats ergeben eindeutige Hüpfer
Das Game analysiert jedes Musikstück und diktiert dann mir und meiner Spielfigur den Takt. Diese Analyse klappt mehr oder weniger gut. Zu Beginn probierte ich noch, ob ich mit komplexen Rhythmen dem Game ein Schnippchen schlagen konnte. Keine Chance. Die Komplexität stellte mir selber ein Bein.
Besser ging es mit Hiphop-Beats oder Liedern mit regelmässigen, klar erkennbaren Taktschlägen, beispielsweise mit «Truth Is» von Brother Ali oder «Sweet Dreams» von Eurythmics. Da lag auch die Analyse nicht falsch.
Zu dieser Musik hüpfte ich gut
Bei gewissen Liedern hingegen stimmte der vom Game vorgegebene Takt nicht mit dem Grundschlag des Stücks überein – ein Musikgefühl ist da eher hinderlich (etwa bei « Another Day, Another Dollar » von den Nappy Roots). Ebenfalls hinderlich sind lange Intros, deren Taktschläge in starkem Kontrast zum eigentlichen Stück stehen.
Einfaches Spielprinzip, unbegrenzte Möglichkeiten
Letztlich hilft die Wahl des Stücks auch, den Schwierigkeitsgrad des Games zu regeln. So kann ich Bewegungsmuster von Gegnern lernen und mich durch schwierige Momente manövrieren, ohne dass ich in der Beat-Hetze aus dem Schritt gerate.
Und all das ist erst der Anfang. Denn «Crypt of the Necromancer» bietet noch so viel mehr, dass mein Spielspass sicher noch bis Ende Jahr dauert: Weitere Spielfiguren, einen Level-Editor, gemeinsames Spielen und viel mehr. Aber vor allem ein Spielprinzip, das überzeugt: Eins, hüpf, grab, Hieb; fünf, sechs, Gold sammeln, hüpf.
«Crypt of the Necrodancer» läuft auf Windows, Mac und Linux, keine Altersangaben vermerkt.