Auch wer bemüht ist, grobe kulturelle Verallgemeinerungen zu vermeiden, muss manchmal feststellen: In manchen Dingen ticken die Japaner einfach anders. Beispiel Adventure-Games: In Japan versteht man darunter sehr textlastige Geschichten mit statischen Manga-Bildern, eher interaktive Romane also als actiongeladene Abenteuerspiele.
Nicht bei allen japanischen Adventures geht um die Liebe zwischen einem männlichen Protagonisten und der Frau seiner Träume. Im Unter-Genre der Otome-Games etwa steht die romantische Beziehung zwischen einer weiblichen Hauptfigur und einem männlichen Charakter im Mittelpunkt.
Genau so an ein weibliches Publikum richten sich Shōnen-Ai-Games , in denen makellos schöne Männer zueinander finden wollen – und oft nicht können. Vor diesen (fast immer von Autorinnen geschrieben) homoerotischen Geschichten hätten heranwaschsende Mädchen weniger Scheu als vor erotischen Darstellungen zwischen Mann und Frau, so eine Theorie.
Dinosaurier, menschengrosse Grillen und Vögel
In manchen japanischen Adventures sind die Grenzen der Liebe sogar noch weiter gefasst: In «Jurassic Heart» etwa geht es um die Beziehung zwischen einem Mädchen und einem… Dinosaurier. In «Creature to Koi Shiyo!» will ein Teenager-Junge das Herz einer menschengrossen Grille (!) gewinnen. Und in « Hatoful Boyfriend » schliesslich flirten wir mit Vögeln. Jawohl: Mit Vögeln.
Was sich wie ein Scherz liest, war ursprünglich auch einer: Die Manga-Autorin (und Tauben-Freundin) Moa Hato veröffentlichte das Game erstmals 1. April 2011 als Gratis-Demo, mit der sie sich über Jungs-Stereotypen in japanischen Computerspielen für Mädchen wollte lustig machen wollte. Der Begriff «Hatoful» ist dabei ein Wortspiel mit dem im Japanischen verbreiteten Scheinanglizismus «hātofuru», der sowohl für «warmherzig» als auch für «schmerzlich» stehen kann.«
Es geht immer um die Liebe
Das jetzt veröffentlichte Remake, das der amerikanische Publisher Devolver Digital für den internationalen Markt herausgebracht hat, strotzt immer noch vor allerlei Kalauern mit Vogelnamen. Die englische Übersetzung ändert auch nichts am Spielprinzip: Wir klicken uns von einer Texttafel zur nächsten, sehen als Hintergrundbilder Schulgebäude und Klassenräume, vor denen gross die Bilder der Spielfiguren zu sehen sind. Und das sind ausschliesslich Vögel – nur um es noch einmal klar zu machen.
Das Spiel beginnt damit, dass unsere Protagonistin als einziger Mensch an das renommierte «St. PigeoNation's Institut» zugelassen wird. Dort stellen wir unser Curriculum selbst zusammen und beeinflussen so die Eigenschaften unseres Charakters und damit unsere Chancen auf eine mögliche Romanze: Mathematik-Unterricht etwa erhöht unser Wissen, Musik unser Charisma und so weiter.
Die Geschichte von »Hatoful Boyfriend« kann sich in unterschiedliche Richtungen entwickeln, je nachdem, welche Entscheidungen wir in bestimmten Momenten fällen. Immer aber geht es darum, eine Liebesbeziehung zu einem unserer Klassenkameraden aufzubauen (und ich muss nicht noch einmal betonen, dass es sich dabei ausschliesslich um Vögel handelt, oder?).
Der Liebeskummer einer Wachtel
Die Auswahl an gefiederten Freunden orientiert sich dabei an klassischen Stereotypen, wie man sie aus Mangas und Animes kennt: Da ist unser treuer Kindheitsfreund Ryouta, eine rechtschaffene Felsentaube. Die adelige Pfautaube Sakuya Le Bel Shirogane, hochnäsig, aber verdammt gut aussehend! Der zurückhaltende Nageki, eine Carolinataube. Oder eine Luzon-Dolchstichtaube, der exzentrische Anghel.
»Hatoful Boyfriend« gibt sich alle Mühe, diese Vögel zu anthropomorphisieren und zeigt uns zu Beginn des Games sogar, wie sie in Menschengestalt aussehen würden.
Das funktioniert so gut, dass uns schon nach kurzer Spielzeit die Klage über eine verlorene Liebe sehr zu Herzen geht – auch wenn sie bloss aus dem Schnabel einer Wachtel kommt.
Eine dystopische Sci-Fi-Story
Doch es ist nicht nur alles Schäkern und Turteln am St. PigeoNation's Institut: Zumindest im Hintergrund unserer Liebesgeschichten zeichnet sich Unheimliches ab und wir beginnen zu fragen: Warum eigentlich sind wir der einzige Mensch an dieser Schule? Was hat der unheimliche Schul-Doktor zu verbergen, das Chukarhuhn Shuu Iwamine? Warum sind auf manchen Hintergrundsbildern Ruinen von Hochhäusern zu sehen, während unsere Protagonistin allein in einer Höhle lebt? Und wann um Himmels Willen haben all die Vögel so gut sprechen gelernt?
Nachdem wir mit ein paar unserer Klassenkameraden erfolgreich angebandelt haben, eröffnet uns »Hatoful Boyfriend« eine neue, lange Storyline, die all die bohrenden Fragen beantwortet. Und ohne zu viel verraten zu wollen: Es ist eine dystopische Science-Fiction-Story, die weitaus komplexer und unheimlicher ist, als man es von einer Dating-Simulation mit Vögeln je erwartet hätte – falls man so etwas wie eine Dating-Simulation mit Vögeln überhaupt je erwartet hat.
Comics, Bücher und Audio-Drama-CDs
Dass es eine Weile dauert, bis die eigentliche Geschichte von »Hatoful Boyfriend« ins Rollen kommt, ist ein geschickter Erzähltrick der Autorin Moa Hato. In der Zeit davor, während wir mit unseren Klassenkameraden anbandeln, lernen wir die einzelnen Vögel kennen und beginnen uns für ihr Schicksal zu interessieren. »Hatoful Boyfriend« längst mehr als nur eine lustige Prämisse, wenn die eigentliche Story beginnt, und so haben auch die dann folgenden Enthüllungen weit mehr emotionales Gewicht.
Moa Hato wird zu Recht für ihre Erzählkunst gelobt: Im Gewand einer abstrusen Vogel-Romanze erzählt sie eine Geschichte, die spannender und vielschichtiger ist als mancher Thriller. In Japan sind denn auch zahlreiche Adaptionen des Games entstanden: Comics und Bücher, eine Internet-Radioshow, eine Web-Serie und vier Audio-Drama-CDs – noch so eine japanische Idiosynkrasie.
«Hatoful Boyfriend» gibt es für PC, Mac und Linux. Es kann über die Steam-Plattform heruntergeladen werden. Das Haikiew ist hier.